Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erben der Nacht - Pyras

Die Erben der Nacht - Pyras

Titel: Die Erben der Nacht - Pyras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
Vom Netzwerk:
Experimente nicht beeinflusst und dadurch die Ergebnisse verfälscht werden.«

    Erst als der Direktor zwei Gaslampen entzündete, sah Carmelo, dass der hintere Teil des Raums von einem Käfig mit starkem Gitter eingenommen wurde. Im vorderen Bereich, den sie nun betraten, stand ein einfacher Sekretär mit einer aufgeschlagenen Ledermappe und zahlreichen aufeinandergestapelten Folianten. Auch in einem schlichten Regal sah er Bücher und Ordner mit Papieren. Zwei Stühle standen in sicherem Abstand vor dem Gitter. Auf einem Tisch entdeckte er seltsame Instrumente, aber auch eine Schüssel mit einem fleischigen Knochen, eine andere mit Eintopf, ein dunkles Brot und einen Becher. Die Instrumente daneben widersprachen allerdings jeder Gastlichkeit. Es waren Scheren und zangenähnliche Dinge, an der Wand lehnte eine lange Stange mit einer Spitze. Kleine, mit Korken verschlossene Fläschchen standen an der Wand aufgereiht. Einige enthielten ein paar Haare, andere eine klumpig dunkle Flüssigkeit.
    Carmelo wandte sich dem hinteren Teil des fensterlosen Raumes zu, der neben dem nackten Steinboden nichts zu bieten hatte. Außer natürlich dem Wesen, das dort gefangen gehalten wurde. Carmelo hatte schon viel in seinem Leben gesehen, doch bei diesem Anblick setzte sein Atem kurz aus. Das Wesen sah aus wie ein Mensch - allerdings nur auf den ersten Blick! Sein Körper war gedrungen, breit und muskulös, die Arme wirkten unnatürlich lang. Doch es waren vor allem die Gesichtszüge mit dem breiten, vorgeschobenen Kinn und den wilden, hasserfüllten Augen, die jenseits von allem Menschlichen lagen.
    »Nun, was sagen Sie?«, drängte der Direktor, nachdem Carmelo an das Gitter getreten war und die Kreatur eine Weile schweigend betrachtet hatte.
    »Ich hörte, er habe Reißzähne wie ein Wolf«, sagte Carmelo.
    »Ja, nehmen Sie die Stange. Er wird danach schnappen. Dann können Sie es gut erkennen.« Der Direktor drückte ihm das hintere Ende der Eisenstange in die Hand. »Nur zu. Es kann Ihnen nichts passieren«, forderte er Carmelo auf, sein Zögern missverstehend. So hässlich und unmenschlich diese Kreatur auch schien, wallte dennoch etwas wie Mitleid in ihm auf, sie in diesem Zustand zu sehen.
Die Bestie war mit dicken Tauen gefesselt. Die zerrissenen Reste dünnerer Seile zeugten von ersten vergeblichen Versuchen, sie zu bändigen. Eine schwere Eisenkette war mit Ringen an den Fußgelenken befestigt, eine zweite um den Leib geschlungen, eine weitere um die Kehle gelegt. Alle drei waren an Ringen an der hinteren Wand befestigt. So kauerte die Bestie, zur Bewegungslosigkeit verdammt, auf dem nackten Boden. Ihr Blick allerdings schwor, dass sie sich rächen und diejenigen in Stücke reißen würde, die ihr das angetan hatten.
    Carmelo schüttelte die Schwäche ab und betrachtete das Wesen mit dem gewohnten berufsmäßigen Abstand. Er hatte schon viele Vampire gesehen, in ihrer Erscheinung einfachen Menschen gleichend, aber auch schöne, elegante und gebildete. Dieser hier glich mehr den Erzählungen, die er bei seiner Reise durch die Länder der Karpaten gehört hatte, die Walachei und das Fürstentum Moldau, die nun zusammen das Königreich Rumänien bilden würden, und vor allem in Transsilvanien, das unter dem Namen Siebenbürgen im vergangenen Jahrhundert Österreich-Ungarn zugeschlagen worden war. Carmelo hatte diese Geschichten gesammelt und peinlich genau notiert, doch es war ihm nie ein Vertreter dieser grausamen, tierhaften Vampire über den Weg gelaufen. Nun fand er ein Wesen, das den Beschreibungen und seinen Vorstellungen von diesen sehr nahekam. Wie gelangte so ein Vampir nach Paris? Wenn er denn einer war!
    Carmelo schob die Stange durch das Gitter und näherte die Spitze dem Gesicht des Gefangenen. Der Hass in seinen Augen ließ ihn schaudern, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
    Entgegen der Ankündigung des Direktors schnappte das Wesen nicht nach der Stange, beging aber auch keine sinnlosen Versuche, ihr auszuweichen. Carmelo berührte den Mund und schob die Oberlippe ein wenig hoch. Die Spitze der Stange war so scharf, dass ein Blutfaden über die Lippe und das stoppelbärtige Kinn rann. Das Gebiss war kräftig, aber keineswegs das eines Raubtieres, wie der junge Mann in der Oper es beschrieben hatte. Wollte er sich nur wichtigmachen und hatte deshalb maßlos übertrieben? Nicht unbedingt, wie Carmelo wusste.

    »Fällt Ihnen etwas an seinen Zähnen auf?«, fragte Carmelo und schob die Lippen noch

Weitere Kostenlose Bücher