Die Erben der Nacht - Pyras
erzürnten oder verletzten.
»Ja, das würden die Menschen wohl sagen, wenn man sie fragte. Und doch habe ich nicht einen von ihnen ermordet, seit ich in Paris bin. Ja, seit ich Persien verlassen habe, denn ich habe meinem Freund, dem ich mein Leben verdanke, einen Schwur geleistet. Ich töte nur noch, wenn mein eigenes Leben in Gefahr ist. Ihr dagegen lebt vom Blut der Menschen, tötet für eure Lust und euren Hunger, ohne Mitleid, ohne Gewissen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Jahr für Jahr im Labyrinth der Finsternis verschwinden und nicht wieder auftauchen. Und dennoch jagen die Menschen mich und stellen mir Fallen. Euch, die ihr die wahre Gefahr darstellt, bemerken sie nicht.«
»Vielleicht liegt es daran, dass wir alles tun, um von ihnen nicht bemerkt zu werden, statt uns in ihrer Oper einzunisten, das Ensemble und die Arbeiter in Angst und Schrecken zu versetzen und damit
jeden Monat eine ordentliche Summe zu erpressen«, gab Joanne zurück.
»Das mag sein«, gab das Phantom zu. »Und nun zieht weiter und meidet fortan mein Revier. Ihr vier scheint hier fremd zu sein, daher sage ich es in aller Höflichkeit. Die Vampire und ich haben es von Anfang an so gehandhabt, dass wir unsere Bedürfnisse gegenseitig respektieren und uns aus dem Weg gehen.«
»Noch eine Frage«, rief Ivy schnell. »Wissen Sie, wohin man den Vampir gebracht hat, der in die Falle getappt ist? Hält man ihn gefangen oder hat man ihn vernichtet?«
Wieder starrte das Phantom Ivy mit diesem intensiven Blick an. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht darum gekümmert. Jedenfalls war er noch am Leben - oder wie man das sonst bei eurer Spezies nennen soll -, als sie ihn von hier wegschafften und oben am Place de la Madeleine in eine geschlossene Kutsche luden, mit der sie sonst die Toten zu ihrer letzten Ruhestätte bringen.«
»Und von da an verliert sich die Spur«, sagte Joanne und nickte. »Deshalb konnten Lucien und seine Getreuen ihn nicht finden.«
»Es wird verdammt schwierig, ihn oder auch nur seine Reste aufzuspüren, sollten sie ihn aus der Stadt gebracht haben«, meinte Franz Leopold.
»Haben Sie irgendeinen Hinweis für uns, der uns weiterhelfen könnte, Monsieur …?«, bat Ivy.
»Ich heiße Erik«, sagte das Phantom schroff. »Nein, ich weiß nichts, und ich habe euch bereits gesagt, dass unsere Begegnung nun ein Ende finden wird.«
Ivy blieb hartnäckig. »Erik, da die Falle Sie hätte treffen sollen, wird in der Oper vielleicht darüber gesprochen. Wäre es zu viel verlangt, wenn Sie ein wenig die Augen und Ohren offen hielten?«
»Ja, allerdings! Wir haben nichts miteinander zu schaffen. Wir sollten nicht einmal miteinander reden. Ihr seid Vampire …«
»Und Sie sind ein Mensch, der von anderen Menschen genauso missverstanden, gehasst, gefürchtet und verfolgt wird wie unsereins überall auf der Welt«, ergänzte Ivy mit sanfter Stimme.
Erik starrte sie schweigend an. Seine dunklen Augen glänzten.
»Vielleicht höre ich etwas, vielleicht auch nicht. Ich muss jetzt gehen. Und auch ihr solltet zu euresgleichen zurückkehren.« Er machte eine Handbewegung, als greife er etwas aus der Luft. Mit der anderen, auf die wohl kein Mensch geachtet hätte, langte er in seine Tasche. Ein Lichtblitz blendete die Vampire. Nur Ivy war geistesgegenwärtig genug, rechtzeitig die Augen zu schließen. Sie erhaschte gerade noch seinen Schatten, der durch eine verborgene Tür in der Wand verschwand. Die Lampe im Gang erlosch und ließ die Vampire in der gewohnten Dunkelheit zurück.
»Und was machen wir jetzt?«, wollte Luciano wissen.
»Ich fürchte, uns wird nichts anderes übrig bleiben, als unverrichteter Dinge zurückzukehren. Es ist schon spät.« Alisa machte ein unzufriedenes Gesicht. »Dabei haben wir noch gar nichts erreicht!«
»Nun, immerhin durften wir das Phantom der Pariser Oper kennenlernen und geistreich mit ihm plaudern«, spottete Franz Leopold.
»Und wir wissen, dass die Falle ihm galt und hier in Paris nicht etwa Vampirjäger am Werk sind«, ergänzte Ivy. »Auch wenn wir die Spur des Seigneurs noch nicht aufnehmen konnten, finde ich das eine beruhigende Nachricht, vor allem nach dem, was wir in Rom erlebt haben.«
»Ja, und die Ausgestoßenen, die Sébastien verdächtigt hat, scheinen ebenfalls nichts damit zu tun zu haben«, fügte Alisa an.
Sie machten sich auf den Rückweg. Joanne übernahm wieder die Führung. Mit der Dunkelheit waren auch die Ratten und Fledermäuse auf ihren Ruf hin
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