Die Erben der Nacht - Pyras
sie wissen, wo der Vater jede Nacht hingeht und was sie in den Ruin treibt.«
Oscar lachte. »Du hast eine blühende Fantasie, mein Freund. Ich glaube, ich sollte dir zuraten, deinen Arbeitgeber und Tyrannen Henry Irving zu verlassen und dich der Romanschreiberei zu widmen. Nun gut, wir werden sehen.«
Eine Weile folgten sie schweigend ihrem Wild.
»Jetzt verlassen wir das Quartier Latin gleich wieder. Worauf haben wir uns da eingelassen?«, stöhnte Oscar, als der Mann die Gebäude der Sorbonne hinter sich ließ und weiter nach Osten strebte. Bram hielt den Atem an und warf seinem Freund einen Blick zu. Würde er die Verfolgung nun abbrechen und zu einer seiner abendlichen Vergnügungen zurückkehren? Nein, Oscar machte ein entschlossenes Gesicht und marschierte weiter.
»Wir haben eine Wette abgeschlossen, und wenn ich mit meiner Vermutung näher liege, dann darfst du morgen die Zeche übernehmen, wenn du mich ins Folies Bergère an der Rue Trévise begleitest.«
»Ein Varieté?«, fragte Bram und schmunzelte.
»Ja, ein grand spectacle mit Damen, die sich sehen lassen können.«
»Nun gut, mein Freund, ich schlage ein. Ich fürchte, eine Erholung werden wir morgen brauchen, denn dies scheint eine lange und anstrengende Nacht zu werden.«
IM JARDIN DES PLANTES
Carmelo schritt weit aus und schwang seinen Spazierstock. Endlich erreichte er die schmale Pforte, die ihn in den Jardin des Plantes einlassen würde, nachdem die Haupttore längst geschlossen waren und sich die Besucher des Zoos und Gartens zerstreut hatten. Carmelo lauschte nach dem Schlag der Glocke einer nahen Kirche. Ja, er war noch zur rechten Zeit. Natürlich hätte er eine Droschke nehmen und so viel schneller hier sein können, doch ihm war nach einem strammen Marsch gewesen, um seine Gedanken zu sortieren und sich darüber klar zu werden, wie er weiter vorgehen wollte. Wenn er sich jetzt geschickt anstellte, dann war seine Zukunft gesichert. Seine und Latonas Zukunft. Wider Willen musste er sich eingestehen, dass sie ihm ans Herz gewachsen war und dass sie sich vom Fratz zu einem ansehnlichen, jungen Mädchen gemausert hatte - auch wenn sie nie eine Schönheit im klassischen Sinn sein würde. Sie war beherzt und klug, und man konnte sie zu jeder Gesellschaft mitnehmen, ohne befürchten zu müssen, dass sie sich nicht passend zu benehmen wusste. Er musste sich eingestehen, dass er es bedauerte, sie bei seiner Jagd nicht an seiner Seite zu wissen. Sie hätte sich großartig geschlagen! Ja, er musste auf eine wertvolle Assistentin verzichten. Doch Carmelo kannte auch ihren Dickschädel, und ihm war klar, dass sie sich nicht nur nicht überreden lassen würde, ihn bei der Jagd zu unterstützen, sie würde ihm die Hölle heißmachen, wenn sie davon erfuhr und alles daransetzen, dass er den Auftrag zurückwies und sich an sein Versprechen von Rom hielt.
Auf sein Klopfen hin wurde ihm die schwere Tür geöffnet. Die Männer waren schon alle versammelt und warteten ungeduldig auf ihn. Dieses Mal waren neben dem ihm bekannten Zoologen, dem Geografen und Höhlenforscher und dem Direktor des Botanischen Gartens zwei Chemiker namens Michel Chevreul und Pierre Eugene
Marcelin, ein Arzt aus der Hôpital Cochin mit Namen Karl G. Westphal und der bekannte Forscher Louis Pasteur anwesend. Sie alle waren an den Experimenten mit der unbekannten Kreatur interessiert und machten sich eifrig Notizen. Carmelo betrachtete neugierig den berühmten Wissenschaftler, der die neue Disziplin Mikrobiologie in großen Schritten vorantrieb. Er passte so gar nicht in das Bild, das er sich von einem so brillanten Geist gemacht hätte. Pasteur war nur mittelgroß und hinkte stark, was von einer halbseitigen Lähmung herrührte. Sein Haar war bereits ergraut, der gestutzte Vollbart fast weiß. In seinem schäbigen braunen Rock, der viel zu groß um seinen mageren Körper herabhing, war er schlechter als nur unelegant gekleidet.
Dennoch war man wohl beraten, in seiner Gegenwart die Zunge zu hüten. Carmelo hatte gehört, er sei ein streitbarer Geist, der sich gern zu Wutausbrüchen hinreißen ließ, wenn einer seiner Kollegen es wagte, respektlos über ihn oder seine Forschungsarbeit zu sprechen. Pasteur hatte an der mittelalterlichen Vorstellung der Urzeugung gerüttelt, die davon ausging, dass unter manchen Umständen Belebtes aus Unbelebtem entstehen kann. Das nahmen ihm viele der Kollegen übel. »Die grotesken Theorien dieses kleinen bakterientollen Chemikers« oder »die
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