Die Erben der Nacht - Pyras
und Ratten zogen sich ein Stück in den dunklen Gang zurück. Joanne brummte nur missmutig. »Ich habe es geahnt.«
Als sich die Vampire an die Helligkeit gewöhnt hatten, sahen sie sich erstaunt um. Es war niemand zu sehen. Dennoch brannte nun ein Licht in einer Schale hoch oben an der Wand. Alisa schnupperte.
»Das ist kein Gas oder Öl. Es ist irgendeine andere Substanz, die ich nicht kenne.«
»Ist doch egal, was es ist«, sagte Luciano. »Aber warum brennt es plötzlich? Wer hat es entzündet? Ich kann niemanden sehen.«
Joanne machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur eines seiner Kunststückchen, mit denen er die Menschen beeindruckt und auf Distanz hält. Sie halten ihn für einen großen schwarzen Magier, der allerlei gefährliche Zaubersprüche beherrscht. Es ist auch immer mal wieder die Rede von einer Spiegelfolterkammer, aus der es kein Entrinnen gibt, und von seinem Zauberseil, mit dem er aus dem Nichts seine Feinde erdrosselt.«
»Hast du die Folterkammer gesehen?«, wollte Luciano wissen.
»Nein, wahrscheinlich nur eine der Geschichten, die die Ängste der leichtgläubigen Menschen schüren sollen.«
Noch während Joanne sprach, ließ eine Ahnung Ivy herumfahren. Sie hatte den Mund noch nicht zu einer Warnung geöffnet, als ein Mann aus dem Nichts zu treten schien. Ivy war fassungslos. Wie hatte es ihm gelingen können, unbemerkt so nah an sie heranzukommen, und wo kam er überhaupt her? Sie sah undeutlich eine Lücke in der gemauerten Wand, die zuvor ganz sicher noch nicht dort gewesen war. Oder hatten sie sie übersehen, geblendet von dem plötzlichen Lichtschein?
Nur einen Wimpernschlag später hatten auch die anderen die Gestalt entdeckt. Seymour sprang zwischen den Mann und Ivy und fletschte drohend die Zähne. Alisa und Luciano rissen den Mund auf. Selbst Franz Leopold gelang es nicht, seine Maske der Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten.
Die Erscheinung war groß und dünn, beinahe mager, dennoch gut gebaut und ohne Zweifel ein Mensch, obwohl das Bouquet der Gerüche fremdartig erschien. Sein Körper steckte in einem schwarzen Frack von solider Qualität, der von einem guten Schneider angefertigt worden sein musste, Hemd und Halsbinde schimmerten blütenweiß. An den Händen trug er weiße Seidenhandschuhe. In der Rechten hielt er einen Stock mit Elfenbeinknauf. So weit war nichts zu erkennen, was ihn von anderen Männern der Gesellschaft unterschied, die sich für den Abend gekleidet hatten, wäre da nicht die weiße Maske gewesen, hinter der er sein Gesicht vollkommen verbarg. Durch die Schlitze funkelten dunkle Augen, die wie die der Vampire in ihren Tiefen rot zu schimmern schienen. Die Ränder der Maske gingen in einen schwarzen Haarschopf über - sauber geschnitten und gepflegt.
»Das Phantom der Oper«, hauchte Alisa und starrte den Fremden noch immer an.
Er deutete so etwas wie eine Verbeugung an. »Keine Schatten an der Wand. Da muss man nicht lange rätseln. Vampire und ein weißer Wolf in meinem Revier«, sagte er in seiner vollen, seltsam betörenden Stimme, die man seinem sehnigen Körper nicht zugetraut hätte.
»Was ist euer Begehr? Dies ist kein Ort für euch. Dem Vampir, der hier vor ein paar Nächten entlangkam, ist er jedenfalls nicht gut bekommen.
Und nun suchen die anderen verzweifelt seine Spuren.« Er lachte. Es war kein bösartiges Lachen. Eher ein wenig traurig. »Ja, die Falle war klug gestellt. Doch das Wild war das falsche. Auch wenn ich nicht sagen kann, ob ihnen das gleich klar war. Sie waren so voller Triumph, als sie mit ihrer Beute abzogen.«
»Die Falle war für Sie bestimmt, nicht wahr?«, sagte Ivy, die den Blick nicht von der Gestalt abwenden konnte. Seymour, der schützend zwischen ihr und dem seltsamen Fremden stand, sträubte das Fell und knurrte leise.
Wieder verbeugte sich das Phantom. Die Augen hinter den Schlitzen waren nun auf Ivy gerichtet. »Ja, die Falle war für mich gedacht. Die Pariser geben sich alle Mühe, mich einzufangen und aus ihrer Oper zu entfernen.«
»Warum? Was haben Sie getan?«, fragte Alisa interessiert. »Getan?« Das Phantom schien zu überlegen. »Ich habe das Verbrechen begangen, nicht so zu sein wie sie und dennoch zu überleben.«
»Die Menschen nennen ihn ein Monster, einen lebenden Toten, und sie haben Angst vor ihm, weil er Magie ausübt und ohne Gnade tötet«, sagte Joanne, als rede sie über einen abwesenden Dritten.
Das Phantom wandte sich ihr zu. Es war ihm nicht anzumerken, ob ihn ihre Worte
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