Die Erben der Nacht - Pyras
zurückgekehrt und so kamen sie gut voran.
»Vielleicht hört sich Erik ja wirklich ein wenig in der Oper um«, sagte Ivy.
»Meinst du?« Luciano schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Und wenn nicht, dann tun wir es eben«, rief Alisa mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. »Findet ihr nicht, dass wir auch ein wenig von Paris kennenlernen sollten? Das neue Opernhaus von Garnier ist in aller Munde. Die Aufführungen sollen grandios sein! So etwas dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Das wird Seigneur Lucien sicher auch so sehen. Er wird seinen Gästen etwas bieten wollen!«
Joanne blieb stehen und wandte sich zu Alisa um. »Darauf würde ich nicht wetten. Die Eröffnung des Opernhauses liegt nun schon fast fünf Jahre zurück und keiner der Pyras hat bisher auch nur eine Aufführung gesehen.«
»Was?« Alisa konnte es nicht glauben, doch Franz Leopold machte ein Gesicht, als habe er es immer schon geahnt.
»Sieh sie dir an! Kannst du dir auch nur einen Pyras unter den Opernhausgästen vorstellen, ohne dass eine Massenpanik ausbricht? Vermutlich haben sie nicht einen Anzug in ihren Katakomben dort unten, mit dem man sich in der Oper sehen lassen könnte.«
Joanne warf den Kopf zurück. »Na und? Wir legen eben auf andere Dinge Wert. Das Gesinge der Menschen vor irgendwelchen bunten Pappkulissen, was soll uns das interessieren?«
»Kann euch nicht einmal die Ansammlung wohlriechender Besucher locken?«, wunderte sich Luciano.
»Wozu der Aufwand? Wir finden in unseren Gängen und auf den dunklen Gassen genug frisches Blut für alle. Warum sollten wir uns dann in unbequeme Kleider zwängen, uns seltsame Frisuren und Hüte zulegen und uns in ein hell erleuchtetes Opernhaus begeben?«
»Wieder einmal muss ich feststellen, dass man über Kultur und Geschmack einfach nicht streiten kann«, näselte Franz Leopold. »Entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Es wäre zu viel gewesen, auch nur einen Hauch davon bei euch Pyras zu erhoffen.«
Joanne biss sich auf die Lippe und stürmte wieder voran, dass die anderen sich eilen mussten, sie nicht zu verlieren. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.
»Ich habe von zwei zuverlässigen Zeugen erfahren, dass das Phantom gestern der abendlichen Opernvorstellung in seiner gewohnten Loge fünf beigewohnt hat. Tut mir leid, mein Lieber.«
Bram Stoker sah seinen Freund Oscar an. »Dann muss ich es wohl glauben.« Er schwankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung.
Die beiden Männer schlenderten den von zahlreichen Gaslaternen
erleuchteten Boulevard Saint Germain entlang. Doch nun war Bram nicht mehr bei der Sache und hatte weder Freude daran, die teuren exotischen Waren der Läden zu bestaunen, noch die luxuriös gekleideten Damen und Herren, die wie sie an diesem lauen Abend auf dem Boulevard unterwegs waren. Ungeduldig stieß er die Spitze seines Stocks bei jedem Schritt auf das Pflaster. Oscar beobachtete ihn eine Weile von der Seite und lachte dann laut auf.
»Ach Bram, nun lass dir nicht von einem Phantom den schönen Abend verderben. Du wirst seiner schon noch habhaft werden, so wie ich dich kenne. Ansonsten werde ich dich nachts auf die Friedhöfe begleiten, bis wir eine deiner gruseligen Gestalten aufgespürt haben, die dir keine Ruhe mehr lassen. Versprochen! Großes Ehrenwort! Wir verlassen Paris nicht, ohne einem Wesen aus dem Schattenreich begegnet zu sein.«
Bram ignorierte die Spötteleien seines Freundes. »Dann hat dieser Mann in der Bar, mit dem du gesprochen hast, dir nur einen Bären aufgebunden. Kein Wunder, dass er dir nicht sagen wollte, wohin sie das Phantom gebracht haben.«
Oscar überlegte einige Augenblicke - oder war er von einem grünseidenen Halstuch und Handschuhen gleicher Farbe in einem der Schaufenster so fasziniert, dass er sich mit der Antwort Zeit ließ?
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte er endlich. »Er war wirklich stolz auf die Tat und dann über sich selbst erschrocken, weil er das Geheimnis mit seiner vom Wein gelockerten Zunge ausgeplaudert hat. Wenn mich meine Menschenkenntnis nicht völlig im Stich lässt, dann würde ich behaupten, er hat die Wahrheit gesagt.«
»Und wieso saß das Phantom dann gestern Abend ungerührt in seiner Opernloge?«, fuhr Bram seinen Freund heftiger an, als er es beabsichtigt hatte.
Oscar nahm es gelassen. »Er ist ihnen entkommen? Oder sie haben ihn freigelassen, nachdem sie erfahren hatten, was sie wissen wollten?«
Bram zog eine Grimasse. »Das glaubst du nicht
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