Die Erben der Nacht - Pyras
großen Busches, dessen Blattspitzen sich bereits herbstlich rot färbten. Wo wollte ihr Onkel nur hin? Fast bereute sie es, sich auf diese Verfolgung eingelassen zu haben. Ihr taten die Füße weh, doch nun lohnte es sich nicht mehr umzukehren, nachdem er sie durch die halbe Stadt geführt hatte. Dass er sie belogen hatte, war ihr bereits klar, als er, statt die Seine
zu queren und nach Norden auf den Montmartre zuzustreben, an dessen Fuß sich die Varietés und Vergnügungslokale befanden, stets weiter nach Osten gegangen war. Aber wo befanden sie sich jetzt? Es waren kaum mehr Menschen unterwegs. Die belebten Straßen hatten sie hinter sich gelassen. Latona versuchte, sich den Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen, den sie vor einigen Tagen betrachtet hatte. Das Quartier Latin lag hinter ihnen, und sie mussten bald auf die Seine stoßen, die sich nach den Inseln der Cité und St. Louis nach Süden wand. Latona sah sich um. Eine Mauer erstreckte sich nach links und rechts, dahinter waren alte Bäume zu sehen. Carmelo passierte ein geschlossenes Gittertor zwischen gemauerten Pfeilern, bog um eine Ecke und näherte sich dann einer schmalen Pforte. Das Türlein öffnete sich mit einem leisen Seufzer, und Carmelo verschwand im Dickicht dahinter, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Latona hastete über die Straße, wartete einen Augenblick und schlüpfte ebenfalls durch die Pforte. Düster erhoben sich Büsche und weit ausladende Bäume über Rasenflächen und Blumenrabatten und verdeckten den Sternenhimmel. Ein Stück weiter vorn konnte sie zu ihrer Rechten ein hohes Gebäude erahnen, das im Nachtlicht seltsam schimmerte. Latona brauchte eine Weile, ehe sie begriff, dass sich die Sterne in unzähligen Scheiben spiegelten. Ein riesiges Gewächshaus, unter dessen Glas- und Eisenkonstruktion ausgewachsene Palmen und andere exotische Gewächse wuchsen. Das hier musste der Jardin des Plantes sein, in den ihr Onkel sie bereits bei Tag geführt hatte. Allerdings waren sie einen anderen Weg gegangen. Was aber zum Henker wollte er hier mitten in der Nacht? Hastig sah sie sich um. Er folgte dem breiten, von Bäumen zu beiden Seiten gesäumten Hauptweg, der den Park wie ein Boulevard durchschnitt. Sie musste ein wenig warten. Der Weg bot ihr keine Deckung, sodass er sie sehen musste, würde er sich nur einmal umdrehen. Sie folgte ihm mit den Augen und erwartete, er würde den Botanischen Garten bis zum Ende durchschreiten, aber da wandte er sich unvermittelt nach links und auf ein Tor in einer Mauer zu.
Sie hatte gerade den vom Sternenlicht beschienenen Hauptweg überquert und wollte ihm nacheilen, als ein Geräusch an ihr Ohr
drang. Kam da jemand? Wer konnte das sein? Sie lauschte, und es war ihr, als könnte sie zwei gedämpfte Stimmen hören. Der Botanische Garten schien in dieser Nacht eine große Anziehungskraft auszuüben. Latona beschloss, einen kleinen Umweg auf sich zu nehmen, um zu dem zweiten Tor zu gelangen. Der etwas tiefer angelegte Garten der alpinen Pflanzen mit seinen engen, verschlungenen Pfaden bot mehr Schutz als der breite Weg. Am Ende musste sie zwar eine Mauer erklimmen, doch die großen, rauen Natursteinblöcke waren kein Hindernis für sie. Und auch die zweite Pforte ließ sich problemlos öffnen. Sie huschte hinter einen Baum und blieb dann stehen, um sich zu orientieren. Der Weg führte zu beiden Seiten um ein verspieltes Gebäude mit mehreren sechseckigen Pavillons herum. Seltsame Geräusche und noch fremdartigere Gerüche hüllten sie ein. Ein Nachtvogel schrie, dann war ein Stück weiter weg ein Brüllen zu hören, das sie zusammenzucken ließ. Aus einem Gebäude weiter rechts schallte irres Lachen. Himmel! Was war das? Sie klammerte sich an die raue Rinde. Das Häuschen zu ihrer Linken schien zur Vorderseite nur mit einem Gitter verschlossen zu sein. Ein Brummen erklang und ein scharfer Geruch stieg ihr in die Nase. Plötzlich verstand sie und hätte vor Erleichterung fast gekichert. Sie war im Tiergarten gelandet. Das Lachen war vermutlich von einem der Riesenaffen gekommen oder einem anderen Tier, das vom Brüllen der Raubkatze erwacht war. Dieses Rätsel hatte sich gelöst, doch die Motive ihres Onkels schienen ihr noch unverständlicher.
Wo war er überhaupt? Sie ließ den Blick schweifen. War dort nicht ein Schatten, der hinter dem Pavillon verschwand? Sie eilte so leise wie möglich weiter. Es war ihr, als hörte sie seine Schritte auf dem Kies knirschen. Sie überquerte einen kleinen
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