Die Erben der Nacht - Pyras
folgen und bis in ihre Seele zu blicken.
Tammo war begeistert. Er stürzte von einem Käfig zum nächsten und konnte sich an den exotischen Tieren gar nicht sattsehen. Fernand wusste über jedes Tier Bescheid und konnte nicht selten sagen, wann es gebracht worden war und woher es stammte. Nicht alle waren in der Wildnis ihrer Heimatländer gefangen worden. Einige hatte der Direktor anderen Zoos oder auch mal einem fahrenden Tierbändiger abgekauft. Malcolm blieb in einigem Abstand stehen und beobachtete die beiden Jungen in ihrer Begeisterung. Er selbst konnte sich nur mäßig an den Geschöpfen hinter Gittern erfreuen. Am meisten hatte ihn die riesige neue Voliere beeindruckt, unter deren mit einem Netz überspannten Stahlkonstruktion Bäume bis zwanzig Meter Höhe wachsen konnten. Hier gab es Büsche, einen See und einen Wasserlauf mit einer Brücke. Kraniche und andere große Vögel ruhten am Ufer. Ein paar graue Papageien mit leuchtend roten Schwänzen flogen kreischend auf, als der Vampir durch die Riesenvoliere schlenderte. Eine seltsame Stimmung hatte ihn ergriffen. Düster und melancholisch, sodass er lieber alleine unter den alten Bäumen des Botanischen Gartens umherspaziert wäre.
Tammo presste das Gesicht zwischen die Stäbe eines Käfigs, in dem ein alter Tiger ruhte, und versuchte, ihn mit verschiedenen Zischlauten anzulocken. Der Tiger hob träge den Kopf und ließ ein dumpfes Grollen hören. Ein Stück weiter erwachten die Gorillas und rüttelten an den Stäben.
Malcolm überließ die beiden ihrem Spiel und schlenderte an den von Blumenrabatten unterbrochenen Gehegen vorbei. Er trat unter die Äste einer ausladenden Ulme und umrundete ein Beet mit späten Rosen. Ihre roten Blütenblätter wirkten im Mondlicht fast schwarz. Der süße Geruch stieg ihm in die Nase. Doch ihm wehte noch ein anderer Duft entgegen. Malcolm blieb wie versteinert stehen, die Hand noch nach einer der weit geöffneten Blüten ausgestreckt.
Das war nicht möglich! Und doch. Wie konnte er sich irren? Er hatte noch nie einen Duft vergessen!
Malcolm witterte in alle Richtungen, um zu erkunden, wohin sie gegangen war. Er konnte sich nicht erklären, wie sie hierherkam. Ganz egal. Sie war hier! Wie gerne wollte er seinen Sinnen vertrauen. Fragte er sich nicht seit dem Tag des Abschieds in Rom, ob er sie jemals wiedersehen würde? Und hatte er es nicht Nacht für Nacht heimlich gehofft?
Er folgte der Spur, merkte aber schnell, dass er falsch lief. Der Duft wurde kaum merklich schwächer. Hier durch diese Pforte hatte sie den Tiergarten betreten und war dann unter dem Baum kurz stehen geblieben. Dann war sie um das Haus mit den Pavillons gegangen und den Weg entlang über die kleine gewölbte Brücke. Bedächtig folgte er ihrem Duft. Würde er gleich vor ihr stehen? Was konnte er sagen? Wie sein Versagen wiedergutmachen? Er hatte nichts zu ihrer Rettung unternommen. Tatenlos hatte er zugesehen, wie die Nosferas sie und ihren Oheim aus ihrem Zimmer geschleppt und zu dem Zug gebracht hatten, der sie wer weiß wohin bringen sollte. Nach Sibirien? Nach Persien oder China? Malcolm wusste es nicht. Und dennoch war sie nun hier in diesem nächtlichen Garten in Paris.
Du hattest keine Wahl , sagte er sich. Wenn du den Nosferas zu erkennen gegeben hättest, dass du sie kennst und sie dir am Herzen liegt, hätten sie ihr vielleicht etwas angetan, um ein Exempel zu statuieren.
Würde sie ihm Vorwürfe machen? Ihn gar ignorieren und mit Verachtung strafen? Das sollte sie nicht wagen!
Warum nicht?, fragte eine böse Stimme in ihm. Willst du ihr drohen? Wirst du ihr Blut nehmen, wenn sie dir nicht gehorsam ist? Ihre Seele und ihr Leben?
Nein, natürlich nicht. Er würde es ihr erklären und sie um Verzeihung bitten. Und doch musste er bei dem Gedanken an ihr Blut trocken schlucken. Wie köstlich musste es sein, nachdem ihre Lippen schon so herrlich geschmeckt hatten.
Im Rausch seiner Gedanken gefangen, umrundete Malcolm eine Reihe von Volieren mit Papageien, Geiern und anderen großen Greifen und blieb dann wie erstarrt stehen. Da war sie. Kein Zweifel.
Sie versuchte, die Tür eines Gebäudes zu öffnen, in dem Reptilien gehalten wurden, deren Geruch ihm schwer und süßlich in die Nase stieg. Malcolm bemerkte wohl, dass noch zwei Männer den Tierpark betreten hatten, aber das kümmerte ihn nicht. All seine Sinne waren auf Latona gerichtet. Malcolm erklomm den künstlichen Felsen, an den die Volieren angebaut waren, und ließ sich
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