Die Erben der Nacht - Pyras
darauf nieder.
Den Kopf in beide Hände gestützt, ein versonnenes Lächeln auf den Lippen, beobachtete er sie und malte sich aus, wie ihr Wiedersehen gleich verlaufen würde. Er überlegte, welche Worte er wählen sollte.
Latona sah sich um und huschte zum nächsten Haus. Sie betätigte die Klinke einer Tür, die jedoch offensichtlich verschlossen war. Sie versuchte es an der nächsten. Malcolm kaute auf seiner Unterlippe und begann, sich zu fragen, was sie dort unten tat, noch dazu zu dieser Nachtstunde. Das war für ein Mädchen ihres Standes nicht üblich! Aber war das etwas Neues? Bereits in Rom hatte sie mit ihrem ungewöhnlichen Verhalten seine Aufmerksamkeit erregt. Wieder musste er lächeln. Dann aber fiel ihm etwas ein. Er war so von ihrem Duft überrascht und betört gewesen, dass er auf nichts anderes geachtet hatte. Nun aber begriff er, dass er noch einen anderen Menschen witterte, den er kannte: ihren Onkel Carmelo, den Vampirjäger von Rom! Hatte er nicht geschworen, sich nie wieder einem Vampir zu nähern? Malcolm konnte für ihn und Latona nur hoffen, dass er sich noch immer an dieses Versprechen hielt. Ansonsten würde es ihm schlecht bekommen. Und Latona ebenfalls.
Etwas in ihm zog sich schmerzhaft zusammen. Er richtete seinen Blick wieder auf das Mädchen, das noch immer vor der dritten Tür stand, nun aber mitten in der Bewegung innehielt und mit erhobenem Haupt in die Nacht starrte. Sah sie zu ihm herüber? Sie konnte ihn nicht entdeckt haben. Ihre menschlichen Augen waren zu schwach, um in den Schatten der Nacht einen Vampir auf einem von Efeu bedeckten Felsen ausmachen zu können. Und doch bebte sie am ganzen Körper. Es wurde Zeit, zu ihr zu gehen. Malcolm wollte sich schon in Bewegung setzen, als die beiden Männer, die er beiläufig schon lange bemerkt hatte, an den Volieren entlanggingen
und direkt auf Latona zustrebten. Malcolm hielt inne. Jetzt sprachen sie das Mädchen an. Das durfte nicht wahr sein! Er fühlte eine wilde Wut in sich aufsteigen, und es kostete ihn Mühe, nicht hinunterzustürzen und den Männern die Kehlen herauszureißen. Doch ein Rest an Vernunft sagte ihm, dass dies kein guter Einstieg für ein Wiedersehen mit Latona wäre. So klammerte er sich mit beiden Händen an die rauen Steine und verfolgte das Gespräch der beiden Fremden mit dem Mädchen. Nur noch ein paar Sätze, dann würden sie sich sicher verabschieden und ihren Weg fortsetzen. Bald schon musste Malcolm zu seinem Entsetzen erkennen, dass Latona mit ihnen gehen würde. Sie wollten sie nach Hause begleiten. Wie in Trance beobachtete er, wie sie sie durch die Menagerie zurück in den Park führten. Dann kam wieder Leben in ihn. Er konnte ihnen folgen. Irgendwann würden sie sich trennen. Dann war sie alleine - und er würde wissen, wo sie wohnte. Mit einem riesigen Satz sprang der Vampir vom Felsen hinab.
»Malcolm? Wo bist du?«
Widerstrebend hielt er inne, um Fernand zu antworten. »Hier. Was ist los?«
»Kommst du? Tammo hat den Tiger für heute Nacht genug geärgert. Außerdem hat ihm der Gorilla fast den Arm ausgerissen, als er ihm die Hand schütteln wollte.« Fernand lachte leise. »Lass uns zurückgehen. Wir wollen uns keinen Ärger einhandeln.«
Malcolm zögerte. »Geht ohne mich. Ich will mich noch ein wenig umsehen.«
Fernand schüttelte den Kopf. »Das kommt nicht infrage. Was hast du vor?«
»Das ist meine Sache«, sagte Malcolm abweisend. »Du bist nicht für mich verantwortlich. Ich werde schon rechtzeitig vor Sonnenaufgang zurück sein.«
Fernand schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das kann ich nicht zulassen. Nicht dass mir persönlich so viel an dir liegt, aber es fällt auf meine Familie zurück, wenn einem der Erben unter ihrer Obhut etwas zustößt. Willst du, dass die Vyrad innerhalb weniger Monate noch einen ihrer Nachkommen verlieren?«
»Wie sprichst du denn mit mir, Kleiner?«, fuhr ihn Malcolm hochmütig an, um zu verbergen, wie sehr ihn die Erinnerung an die Vernichtung seiner Cousine traf. »Ich bin drei Jahre älter als du und kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen. Wenn ich es gewollt hätte, dann hätte ich über den Sommer am Ritual teilnehmen können und wäre gar nicht in die Akademie zurückgekehrt.«
Fernand neigte den Kopf. »Das ist schon möglich. Nun aber bist du hier, und für einen Fremden ist es nicht leicht, sich alleine zurechtzufinden. Alle Gitter und Türen in den Untergrund sind verschlossen - die wenigen ungesicherten wirst du vermutlich nicht
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