Die Erben der Nacht - Pyras
nachdenklich hinterher.
»Ja, er hat schon früher durchblicken lassen, wie unrecht es ihm ist, Tammo immer in Begleitung der beiden Pyras zu sehen, doch dass seine Abneigung so groß ist, war mir nicht bewusst«, sagte Alisa bekümmert.
Franz Leopold zuckte mit den Schultern. »Was soll’s. Er wird nicht der Einzige sein, der nationale Feindschaften hegt. Die Engländer verachten die Iren, die Deutschen die Franzosen und umgekehrt. Jeder hat so seine Feindbilder, auf die er herabsehen kann.«
»Und die Österreicher?«
Franz Leopold deutete ein Lächeln an. »Wir Dracas? Wir sehen auf alle herab, wusstest du das nicht?«
Alisa lächelte zurück. »Doch, eigentlich schon, aber manchmal vergesse ich, wie überheblich und eingebildet ihr seid!«
Franz Leopold zog sich mit einer Verbeugung zurück, und Alisa beschloss, zu Malcolm hinüberzugehen. Lächelnd blieb sie vor ihm stehen. Er schien sie jedoch überhaupt nicht zu bemerken.
Das konnte nicht sein! Die Sinne eines Vampirs waren bei Nacht so geschärft, dass sie jeden Menschen oder anderen Vampir in ihrer Nähe sofort wahrnahmen. Warum ignorierte er sie? Alisa fiel nichts ein, womit sie ihn verärgert haben könnte. Sollte sie wieder gehen?
»Malcolm? Ist etwas mit dir?«
Er schien aus tiefen Gedanken aufzuschrecken. »Was? Oh, Alisa, du, was gibt es?«
»Darf ich mich setzen?«
Er starrte sie wieder einige Augenblicke mit glasigem Blick an, ehe er von seinem Sarg aufsprang und sie mit einer Handbewegung aufforderte, sich dort niederzulassen. Dann sank er neben sie auf das vom Alter dunkel gewordene Holz.
»Geht es dir nicht gut? Du bist ganz anders als sonst. Also wenn ich etwas gesagt oder getan habe, dann war das sicher nicht mit Absicht, und wir sollten darüber sprechen …« Sie sah ihn atemlos an.
Malcolm versuchte sich an einem Lächeln. »Nein, natürlich hast du nichts getan. Ich war mit meinen Gedanken nur woanders. Entschuldige
bitte. Ich freue mich, wenn du zu mir kommst. Für gewöhnlich scheint dir die Gesellschaft deiner Freunde ja zu genügen.«
Alisa wollte protestieren, aber sie schluckte die Worte hinunter. Sie wollte sich nicht auf einen Streit einlassen, der zu leicht außer Kontrolle geraten konnte.
Sollte sie ihm von ihrer Begegnung mit dem Phantom erzählen? Das war eine spannende Geschichte, die zu berichten lohnte. Andererseits war sie wieder mit ihren Freunden unterwegs gewesen, was Malcolms Vorwurf untermauern würde. Daher fragte sie lieber, was er in dieser Nacht nach dem Ende der Übung gemacht hatte.
»Ich war mit deinem Bruder und Fernand draußen im Botanischen Garten«, gab Malcolm bereitwillig Auskunft.
»Was?« Alisa konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Was erstaunt dich daran so? Dass ich - wie ihr auch - mich unerlaubt davongemacht habe, statt hier gelangweilt Stunde um Stunde herumzusitzen?«
»Nein, dass du dir ausgerechnet meinen jüngeren Bruder als Gesellschaft ausgesucht hast, der meiner Meinung nach mehr als nervtötend ist.« Alisa zog eine Grimasse.
Malcolm lächelte leicht. »Ich muss zugeben, dass ich mich weniger von deinem Bruder angezogen fühlte - obwohl ich nichts gegen ihn habe - als von Fernand oder genauer gesagt von Fernands Schlüssel«, präzisierte er, als er Alisas ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkte. Nun nickte sie.
»Das verstehe ich gut. Ohne Joanne wären wir nicht weit gekommen. Und zu unserer Schande muss ich gestehen, dass das nicht nur daran lag, dass wir keine Schlüssel hatten. Ich dachte ja immer, ich hätte einen guten Orientierungssinn, doch hier unten weiß ich oft nicht, wie ich weitergehen soll. Es ist alles so verschachtelt, dass ich auf dem Rückweg lieber meiner eigenen Spur folgen würde, als eine andere Route zu wählen.«
»Ich weiß, was du meinst, und habe mich auch schon gefragt, ob sie das durch die Hilfe ihrer Ratten schaffen oder selbst spüren, wo genau sie sich befinden. Schließlich geht es hier nicht nur darum zu erahnen, wo Norden ist!«
»Wart ihr wirklich im Botanischen Garten? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das ein Ausflugsziel ist, das mein Bruder wählen würde. Hat er mit einer Kiefer gekämpft oder wo hat er sich seine blutige Schramme geholt?«
Malcolm grinste. »Nein, der Angreifer war nicht grün und gehörte eher zur Familie der Katzen, Gattung Panthera. Es war ein Tiger aus Südchina, wenn ich das Schild richtig gelesen habe.«
»Ein Tiger?« Sie sah ihn misstrauisch an.
»Und seinen Arm hat ein
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