Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
was schon? Der Tower war, soweit ich gehört habe, ja nicht nur die Festung des Königs, sondern auch sein Kerker für besondere Gefangene. Haben nicht hier draußen irgendwo die Hinrichtungen stattgefunden?«
Rowena lächelte und wies mit der Hand nach links zu einem nahen Hügel. » Ja, dort drüben auf dem Tower Hill. Die Enthauptungen der edlen Gefangenen waren ein gern besuchtes Schauspiel. Es war ja eine Ehre, hier hingerichtet zu werden. Der gemeine Verräter wurde in Tyburn gehängt, ausgeweidet und gevierteilt.«
Sie schnitt eine Grimasse, während Tammo breit grinste. Auch Fernand und Joanne gesellten sich zu ihnen. » Erzähl weiter. Jetzt wird es interessant«, forderte Joanne die Vyrad auf.
Rowena schüttelte zwar den Kopf, tat ihnen aber den Gefallen.
» Wie ich schon sagte, es war ein beliebter Zeitvertreib zuzusehen, wie der Henker ihnen mit dem Beil den Kopf von den Schultern trennte. Manches Mal kamen so viele, dass man Tribünen errichtete, damit jeder etwas sehen konnte. Bei einer der letzten Hinrichtungen auf dem Tower Hill brach allerdings eine der Tribünen unter dem Ansturm zusammen, und nicht nur der Verurteilte verlor sein Leben, sondern auch zwanzig der Zuschauer.«
Tammo und die Pyras kicherten und verlangten mehr.
» Erzähl uns etwas Schauriges«, verlangte Fernand.
» Ja, eine verpatzte Hinrichtung oder so etwas«, schlug Tammo vor. Alisa rollte ob so viel Sensationsgier mit den Augen, blieb aber stehen, um weiter zuzuhören.
Rowena überlegte kurz, dann nickte sie. » Gut. Wenden wir uns James Scott zu, dem ersten Duke of Monmouth. Er war ein unehelicher Sohn König Charles II ., der nach der Restauration den Thron bestieg. Nach dem Tod seines Vaters beanspruchte Scott die Krone und zettelte eine Rebellion gegen seinen Onkel James II . an. Die Rebellion wurde niedergeschlagen, er wurde in den Tower gebracht und zum Tode verurteilt. Als man ihn auf das Schafott hinaus auf den Tower Hill führte, erwartete der Henker– der ansonsten den Beruf eines Metzgers ausführte–, dass der Delinquent ihn für eine saubere Ausführung seiner Arbeit entlohnen würde. Das war durchaus üblich, wollte man einen ordentlich geführten Schlag. Doch James Scott dachte wohl, ein Mann mit königlichem Blut müsse seine eigene Hinrichtung nicht bezahlen, und er brachte kein Gold mit.«
Tammo schüttelte den Kopf. » Oje, ich ahne Schlimmes.«
Rowena nickte mit gespielt tragischer Miene. » Der Henker war erzürnt, und als James Scott den Kopf auf den Block legte, traf die Axt beim ersten Mal nur ein wenig seinen Hals, gerade genug, um ihm eine schöne Wunde zuzufügen. Und auch der zweite Schlag war kaum besser. Ja, man hört, er habe fast ein Dutzend Mal zugeschlagen, und noch immer war der Kopf nicht vollständig vom Leib getrennt. Schließlich zog er sein Fleischermesser und vollendete seinen Auftrag.«
Joanne klatschte in die Hände und Tammo lachte.
» Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, unterbrach Rowena. » Wie üblich wurde nun der Kopf der Menge gezeigt und dann auf einen Spieß gesteckt, um durch die Stadt getragen und anschließend zur Mahnung an der London Bridge aufgespießt zu werden. Die Wachen waren schon unterwegs, als den Leuten bei Hof einfiel, dass man von James Scott kein Porträt besaß. Das verstieß gegen die Tradition! Immerhin war er ein königlicher Spross. Also ließ man den Kopf rasch von der London Bridge zurückholen, ehe die Raben sich an ihm gütlich taten, brachte ihn zum Tower und ließ einen Chirurgen den Kopf wieder am Körper befestigen. Ein breiter Kragen verbarg die unschöne Naht. Dann wurde nach einem Maler geschickt, der das Porträt des Duke in nur einem Tag malen sollte.« Rowena zog die Nase kraus. » Ihr ahnt, warum sie zur Eile drängten?«
Dieses Mal musste selbst Alisa lachen.
Ehe sich Rowena weiteren blutrünstigen Geschichten zuwenden konnte, rief Lord Milton die Erben zu sich.
» Kommt mit mir. Es ist kurz vor zehn Uhr. Wir müssen das Tor passieren, ehe der Yeoman Warder mit dem Schlüssel der Königin kommt.«
Alisa sah fragend in die Runde, doch Rowena, die das Rätsel vielleicht hätte lösen können, ging mit Mervyn schon auf das erste Tor zu. Sie passierten den Lions Tower , doch zu Tammos Enttäuschung begrüßte kein furchterregendes Löwengebrüll die Besucher. Die königlichen Exoten waren bereits vor fünfzig Jahren in den Regent’s Park umgezogen. Eine Zugbrücke führte über den nun trockenen Graben auf die beiden
Weitere Kostenlose Bücher