Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
Vom Netzwerk:
Percy hob die Krücken und das Klemmbrett mit immer noch zitternden Händen vom Boden auf. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, bevor er den Pflegern den Flur entlang folgte. Als er den Vorraum zum Untersuchungszimmer erreichte, hatten sie Ollie bereits hineingetragen.
    Während er wartete, warf er einen Blick in Ollies Krankenblatt. Er hatte nicht geahnt, dass Ollie in seinem fehlenden Bein nach wie vor Schmerz spüren konnte. Ollie klagte nie, und Percy wusste, warum: Ihm war klar, dass nichts einer Freundschaft mehr schadet als Schuldgefühle.
    Obenauf lagen die Berichte der Militärärzte, hastig hingeworfene Zeilen, wie Percy sie von Besuchen in Frontlazaretten kannte. Sie diagnostizierten Ollies Verwundung und Amputation im medizinischen Fachjargon; erst ganz am Ende befand sich eine Information, die Percy das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    Um sicher zu sein, dass er sich nicht getäuscht hatte, las er sie ein zweites Mal:
    Aufgrund der Verletzung bleibt die Harnröhre von Hauptmann DuMont anfällig für Infektionen, weil nicht alle Giftstoffe mit dem Urin ausgeschieden werden können. Durch die irreparable Schädigung des Penis sind fortan weder Geschlechtsverkehr noch Fortpflanzung möglich.
    Das metallene Klemmbrett fiel laut klappernd zu Boden. Percy sprang auf und stolperte zu einem offenen Fenster, um tief Luft zu holen. Ihm war übel und schwindelig. Er drückte die Stirn gegen den weißen Fensterrahmen. Mein Gott, mein Gott …
    »Alles in Ordnung, Sir?«, hörte er die Stimme des Pflegers neben sich, der die Krankenakte holen wollte.
    »Ja, danke. Kümmern Sie sich lieber um Hauptmann DuMont.«
    Percy sank auf den Stuhl neben dem offenen Fenster und presste die Handflächen gegen die Schläfen. Matthew, dieser süße kleine Kerl, war also … von ihm! Die Geschichte begann, vor seinem geistigen Auge abzulaufen wie ein Film. Mary hatte während seiner Zeit in Kanada gemerkt, dass sie schwanger war, und gewartet, doch er war nicht nach Hause gekommen. Schließlich hatte sie sich an den einzigen Mann gewandt, der sie und das Kind retten konnte. »Ollie war hier, du nicht«, hatte seine Mutter gesagt. Und Ollie hatte sie geheiratet und sich bereit erklärt, ihren Sohn als den seinen aufzuziehen … Ollie, der selbst keine Kinder zeugen konnte …
    Er stützte den Kopf stöhnend in die Hände. Als der Pfleger dreißig Minuten später zurückkehrte, saß Percy immer noch auf dem Stuhl neben dem offenen Fenster und starrte, das Gesicht aschfahl und tränenüberströmt, mit ausdrucksloser Miene vor sich hin.
    »Entschuldigung, Sir«, sagte der Pfleger verlegen. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir Hauptmann DuMont zur Beobachtung und Behandlung hierbehalten, bis ihm eine Prothese angepasst werden kann. Das wird ungefähr eine Woche dauern. Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen und schläft tief und fest. Sie können ihn während der Besuchszeit heute Abend zwischen sechs und acht auf Station B sehen.«
    Percy blieb dieser Besuch nach einem Anruf bei seiner Mutter erspart, die ihn bat, sofort nach Hause zu fahren, weil er Vater eines gesunden, zehn Pfund schweren Jungen geworden sei.

ACHTUNDDREISSIG
    Howbutker, 1933
     
    E ntschuldigen Sie, Mr Warwick, draußen wartet eine Miss Thompson, die mit Ihnen sprechen möchte.«
    Percy hob den Blick nicht von dem Bericht, den er gerade las. Es war Ende Oktober, vier Jahre nach dem großen Börsencrash an der Wall Street, dem Anfang der Großen Depression. Jeden Tag kamen Arbeitssuchende ins Büro seiner Sekretärin und bettelten um eine Stelle bei Warwick Industries, einem der wenigen auch in der Krise soliden Unternehmen. »Haben Sie ihr nicht gesagt, dass das Zeitverschwendung ist, Sally? Höhere Lohnkosten können wir uns nicht leisten.«
    »Sie sucht keine Arbeit, Mr Warwick. Miss Thompson ist Lehrerin und möchte mit Ihnen über Ihren Sohn reden.«
    Percy sah seine Sekretärin fragend an.
    »Wyatt, Sir.«
    »Ach ja, natürlich. Schicken Sie sie rein, Sally.«
    Er erhob sich von seinem Stuhl wie immer, wenn ihn jemand im Büro besuchte. Percy Warwick war bekannt dafür, dass er alle zuvorkommend behandelte, selbst jene, die sich, wie in diesen Zeiten so häufig, an ihn wandten, um ihn um Arbeit, ein Darlehen oder eine Stundung ihrer Schulden zu bitten.
    Miss Thompson war keine Bittstellerin, so viel stand fest, aber trotz ihres selbstbewussten Auftretens wirkte sie nervös und verlegen, als sie sich auf den Platz setzte, den er ihr anbot. Was

Weitere Kostenlose Bücher