Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
fünf Tage zuvor herrschte nur noch Nacht.
»Es tut mir aufrichtig leid, Percy. Bitte, glaub mir das.«
»Ich glaube es dir, Lucy.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, einen Sohn zu verlieren. Ich bete zu Gott, dass ich das nie erleben muss.«
In diesem Augenblick hatte wohl Gott oder einer seiner Engel Percys Lippen versiegelt und die Reste seiner Ehe gerettet. Denn beinahe hätte er gesagt: Das hoffe ich auch, Lucy. Mit Sicherheit hätte sie das so gedeutet, dass der Verlust seines zweiten Sohnes einzig und allein ihr Kummer bereiten würde.
Als er jetzt hörte, wie die Ruder gleichmäßig ins Wasser tauchten, erfüllte Trauer sein Herz. Wie viele Male hatte Lucy ihn hinausgeschickt, um ihren Sohn zu suchen, und nie hatte er es getan. An dieser Stelle hatte er Wyatt von sich gestoßen, und er war nie mehr zu ihm zurückgekehrt, in all den Jahren nicht. Bald wurde er achtzehn. Im September waren die Nazis in Polen und anschließend in Frankreich einmarschiert, so dass Großbritannien sich gezwungen sah, Deutschland den Krieg zu erklären. Sein alter Freund und französischer Waffenbruder Jacques Martine hatte in einem Brief aus Paris prophezeit, dass Amerika in weniger als zwei
Jahren ebenfalls in den Krieg eintreten würde. Zwei Jahre … zwei Jahre blieben ihm noch, seinen Sohn zu finden.
Was könnte er Wyatt geben, wenn er ihn tatsächlich fände? Liebe? Liebte er Wyatt? Nein, jedenfalls nicht so innig wie Matthew. Er wusste selbst nicht, warum. Wyatt besaß Mut und Integrität, Loyalität und Durchhaltevermögen. Er war weder ein Prahlhans noch ein Snob, obwohl beides gerechtfertigt gewesen wäre, denn der stramme, gut aussehende junge Mann wurde beneidet und umschwärmt. Doch davon nahm er genauso wenig Notiz wie von der Tatsache, dass er der Sohn eines der reichsten Männer von Texas war.
»Warum auch?«, hatte Sara in einem Brief an ihn geschrieben. »Er erachtet diese Aufmerksamkeit als Reaktion darauf, was Du bist, nicht darauf, was er ist. Deinen Reichtum interpretiert er als Quelle Deines, nicht seines Stolzes. Kaum zu glauben, dass das derselbe Junge ist, der früher so grausam zu Matthew war.«
Das hatte Percy auch schon öfter gedacht.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Percy Wyatt, als dieser nahe genug heran war. Wyatt warf ihm das Seil zu, und sein Vater machte es fest, so dass der Junge an Land springen konnte.
»Ist nichts los auf der Party?«, erkundigte sich Wyatt.
»Doch. Deswegen bin ich hier. Deine Mutter und ich dachten, du würdest vielleicht gern mitfeiern. Du hast es dir verdient.«
»Ich hab’s nicht so mit Partys«, entgegnete Wyatt. »Ich geh lieber zum Angeln. Du hättest dir nicht die Mühe machen müssen, hier rauszukommen. Du versäumst sicher was.«
Percy versuchte den Schmerz, der in ihm hochstieg, zu unterdrücken und legte eine Hand um die Schulter des Jungen. »Sohn, wie wär’s, wenn wir zwei uns betrinken? Hab ich Jahre nicht mehr gemacht.«
»Was war der Anlass, Dad?«
»Ach, das ist lange her, noch bevor deine Mutter und ich geheiratet haben.«
»Und warum?«
Percy zögerte, ihm zu antworten, fürchtete aber, diesen Moment der Vertrautheit zwischen ihnen zu verspielen. Er und Wyatt hatten nie über seine Vergangenheit geredet. Er konnte sich an keine einzige Frage erinnern, die sein Sohn ihm über seine Jugend, den Krieg oder das Leben vor seiner Geburt gestellt hätte. Nur Matthew hatte sich für seine Erinnerungen interessiert. Percy beschloss, sich nicht um die Antwort zu drücken. Schließlich war Wyatt jetzt ein Mann. »Wegen einer Frau«, sagte er.
»Was ist aus ihr geworden?«
»Ich habe sie an einen anderen Mann verloren.«
»Du scheinst sie geliebt zu haben.«
Sein Sohn war größer und robuster als Matthew, und das Mondlicht ließ ihn noch kräftiger wirken. »Ja, sogar sehr. Warum sonst sollte ein Mann sich betrinken?« Er versuchte zu grinsen.
Wyatt runzelte die Stirn. »Und aus welchem Grund würden wir uns heute betrinken?«
Percy wusste keine Antwort auf diese Frage. Der Schmerz wurde so übermächtig, dass er ihm fast den Atem benahm.
»Keine Ahnung«, presste er schließlich hervor. »War eine schlechte Idee. Deine Mutter würde uns beide umbringen. Wahrscheinlich sucht sie uns schon.«
Wyatt nickte und schloss seine Jacke. »Dann gehen wir mal lieber«, sagte er.
FÜNFUNDVIERZIG
N ach Wyatts Highschool-Abschluss – er weigerte sich strikt, das College zu besuchen – befreite Percy ihn von der körperlichen Arbeit
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