Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
sogar ein Liedchen aus ihrer Kindheit darüber bei:
Am ersten Tag weiß, am zweiten rot,
Am dritten Tag nach meiner Geburt tot.
Mary erläuterte Rachel das Wunder der Baumwolle: Die ersten Knospen sprießen fünf bis sechs Wochen, nachdem die Pflanze ihre volle Höhe erreicht hat. Daraus werden die Blüten, die abfallen; zurück bleibt eine kleine Fruchtkapsel. In jeder dieser Kapseln befinden sich etwa dreißig Samenkörner und bis zu 500 000 weiße Baumwollfasern, die aus der reifen Kapsel herausplatzen. Der Wert der Baumwolle hängt von der Länge dieser Fasern, ihrer Farbe und Beschaffenheit sowie der Menge des Abfalls ab, der in den weißen Köpfen verbleibt. Je länger die Faser, desto wertvoller die Baumwolle.
Rachel sog begierig alle Informationen auf. Tante Mary war sichtlich beeindruckt, dass Rachels Interesse nie verebbte, und am Ende ihres zweiwöchigen Besuchs konnte Rachel nach ihren zahlreichen Ausritten unter sengender Sonne den echten Toliver-Teint vorweisen.
»Dein Vater sagt, du hättest beschlossen, Farmerin zu werden, wenn du erwachsen bist«, meinte Tante Mary, als sie sich
auf der Veranda des Ledbetter-Hauses, das Rachels Großtante lediglich als Büro nutzte, eine Limonadenpause gönnten. Rachel hätte das Gebäude hübsch genug gefunden, um darin zu leben. »Warum?«, fragte Tante Mary. »Die Farmarbeit ist sehr hart und bringt oft nur geringen Lohn. Was reizt dich so daran, dir Hände und Kleidung schmutzig zu machen?«
Rachel musste an Billy Seton aus ihrer Straße denken, der angeblich von Kindesbeinen an einen Baseball-Handschuh mit sich herumgeschleppt hatte. Da wunderte es nicht, dass er, der Stolz von Kermit, später für die New York Yankees spielte. »Der ist für dieses Spiel geboren«, hieß es, und so ging es ihr mit der Farmarbeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, keinen Garten zu haben, denn an keinem Ort war sie glücklicher. Schmutzige Hände und Kleidung machten ihr nichts aus. Im Gegenteil: Sie liebte die fruchtbare, feuchte Erde, den Himmel über sich und den Wind in ihren Haaren, doch am meisten liebte sie es zu beobachten, wie das Grün aus dem Boden brach. Ein schöneres Gefühl kannte sie nicht.
»Weißt du, Tante Mary«, erklärte sie stolz, »ich glaube, ich bin zur Farmerin berufen.«
Ein Lächeln trat auf Tante Marys fein geformte Lippen. »Aha.«
Als Rachels Vater sie abholte, sagte Rachel: »Es war einfach wunderbar, Daddy.« Dabei sah sie ihre Großtante hoffnungsvoll an. »Darf ich nächsten Sommer wiederkommen, Tante Mary? Im August, zur Ernte?«
Mary wechselte lachend einen Blick mit William. »Ja, nächsten Sommer, im August«, antwortete sie.
EINUNDFÜNFZIG
I n den folgenden Jahren sollte Rachel vor dem Küchenfenster noch viele Auseinandersetzungen über ihren alljährlichen Besuch in Howbutker hören.
»Ist das zu fassen, William? Diese Frau bittet uns, ihr Rachel im Sommer zu schicken! Egoistisches Monster! Ich sehe meine Tochter sowieso kaum noch, und dann will sie uns Rachel die ganzen Ferien entführen!«
»Nicht die ganzen Ferien, Alice, nur den August. Tante Mary ist fast siebzig. Warum sollten wir der alten Dame nicht die Freude machen? Sie lebt nicht ewig.«
»Lange genug, um mir meine Tochter wegzunehmen. Sie treibt einen Keil zwischen uns, William. Ich hab’s satt, ständig was über Tante Mary erzählt zu bekommen. Von mir redet Rachel nie so voller Bewunderung.«
Als Rachel das von ihrem Platz vor dem Küchenfenster aus hörte, plagte sie das schlechte Gewissen. Die Vorwürfe stimmten, das musste sie zugeben. Sie merkte, wie verletzt ihre Mutter war, und schwor sich, ihr in Zukunft mehr Zuneigung und Dankbarkeit zu zeigen. Aber bitte, Daddy, lass mich im August zu Tante Mary und Onkel Ollie fahren.
Der Streit endete mit einem Kompromiss, der Alice jedoch nicht daran hinderte, Rachel mit schmalen Lippen nachzuschauen, als sie nach Howbutker aufbrach. Mittlerweile war Rachel vierzehn Jahre alt, und die Abmachung sah folgendermaßen aus: Rachel könne den August »bei Daddys Verwandtschaft« verbringen, aber im Sommer des nächsten
Jahres würde die Familie gemeinsam verreisen, »ohne Howbutker, ohne Somerset und ohne Tante Mary«.
Im vierzehnten Sommer ihres Lebens begegnete Rachel zum ersten Mal Matt Warwick. Sie hatte schon viel gehört von Mister Percys Enkel, der die beiden Wochen ihres Aufenthalts in Howbutker immer bei seiner Großmutter in Atlanta verbrachte. Matts Mutter war in seinem vierzehnten Lebensjahr an Krebs
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