Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
geschaffen für diese Familienberufung. Er hasste die Landwirtschaft und Somerset. Was von ihm erwartet wurde, war ihm zuwider, also ist er zu den Ölfeldern in West Texas ausgebüxt und hier in Kermit gelandet.«
Rachel blieb der Mund offen stehen. Sie hatte angenommen, ihr Vater sei nach der Heirat mit Alice in Kermit geblieben, weil sie dort zu Hause war.
»Dein Vater mag arm sein, Rachel, aber er ist stolz«, fuhr Alice fort. »Deshalb hat er sich nie von seiner Tante unter die Arme greifen lassen, obwohl sie uns helfen wollte. Genauso würde er bei dir reagieren. Und jetzt erzähle ich dir noch ein paar andere Familiengeheimnisse der Tolivers, in die Tante Mary dich mit Sicherheit nicht eingeweiht hat.«
Alice stand auf, um ein Glas mit kaltem Tee zu füllen, Eiswürfel
aus dem Kühlschrank sowie Zucker dazuzugeben und mit heftiger Geste umzurühren. Rachel beobachtete sie mit ungutem Gefühl.
Ihre Mutter setzte sich wieder, ohne einen Schluck von dem Tee zu nehmen. »Vor langer Zeit, als wir dich das erste Mal nach Howbutker mitgenommen haben, damit deine Großtante dich kennenlernen konnte, hat sie deinem Daddy versprochen, dass ihr Besitz bei ihrem Tod verkauft und der Erlös ihm zufließen würde. Du warst damals ein Jahr alt. Sie sagte, er solle dich nach Hause bringen und Somerset vergessen – auf dem Land liege ein Fluch …«
»Ein Fluch?« Rachel bekam eine Gänsehaut.
»Ja, ein Fluch. Sie hat deinem Daddy gesagt, er und du und seine späteren Kinder, ihr könntet alle froh sein, wenn ihr nichts mit der Plantage zu tun hättet.«
Am liebsten hätte Rachel sich die Ohren zugehalten.
»Das erzähle ich dir«, erklärte Alice, »weil ich mich darauf verlasse, dass sie ihr Versprechen deinem Daddy gegenüber hält. Für mich ist das wie ein Silberstreifen am Horizont.«
»Ich verstehe das nicht«, meinte Rachel verwirrt. »Was ist das für ein Unterschied, ob man die Erträge des Bodens erbt oder von dem Gewinn, den er abwirft, lebt?«
Alice sah sie verwundert an. Diese Frage hatte sie offenbar nicht erwartet. Sie griff nach ihrem Glas und trank geräuschvoll ein paar Schlucke Tee. »Um das zu erklären, werde ich noch ein paar Leichen aus dem Familienkeller holen müssen«, antwortete sie. »Tante Marys Vater hat bei seinem Tod seinen gesamten Besitz seiner Tochter hinterlassen und nichts seinem Sohn Miles, dem Vater von deinem Daddy, der deswegen nach Frankreich gegangen ist. Diese Ungerechtigkeit deines Urgroßvaters hat Miles und seine Nachkommen von allem ausgeschlossen, was Tante Mary so wichtig ist. Vielleicht
wäre dein Daddy damals nicht weggelaufen, wenn sein Vater einen Teil von Somerset geerbt und er selbst somit Anspruch auf das Land gehabt hätte. Begreifst du jetzt, warum wir Somerset und deinem geliebten Toliver-Erbe nichts schuldig sind?«
Rachel lauschte verblüfft und bestürzt. Diese Geschichte erinnerte sie an eine andere aus der Familie: Ihre Mutter hatte nie verwunden, dass ihr Vater, der Inhaber einer Autowerkstatt, diese bei seinem Tod ihrem Bruder vermachte und ihr nichts hinterließ. Ihrer Vorstellung nach hätte der Bruder die Werkstatt verkaufen und den Erlös mit ihr teilen sollen und mit seinem Anteil eine neue Werkstatt eröffnen können. Doch er hatte sich geweigert. Rachel fragte sich, inwieweit diese Angelegenheit ihr Urteil in der Sache der Tolivers beeinflusste.
»Ja, Ma’am«, antwortete sie leise.
»Der Unterschied lässt sich also folgendermaßen erklären, Rachel: Den Erlös aus dem Verkauf von Tante Marys Besitz würde dein Vater als Entschädigung verstehen. Ein Anteil an den Gewinnen aus dem, wovor er seinerzeit weggelaufen ist, hingegen wäre für ihn ein Almosen . Kannst du das nachvollziehen?«
Rachel, der das Blut in den Schläfen pochte, nickte benommen. Allmählich wurde ihr klar, worauf ihre Mutter hinauswollte. Tränen traten ihr in die Augen. »Und was soll ich nun deiner Meinung nach tun, Mama?«
Alice beugte sich wieder vor und sah ihrer Tochter in die Augen. »Ich möchte, dass du deinem Vater als Erben von Tante Marys Besitz nicht im Weg stehst und dieses … Hirngespinst, Farmerin zu werden, aufgibst. Die Leidenschaft dafür verglüht sowieso irgendwann. Du wirst die Pläne, was du mit deinem Leben nach dem Highschool-Abschluss anfangen willst, noch ein halbes Dutzend Mal umschmeißen
und schürst, wenn du nicht Tacheles mit Tante Mary redest, nur ihre Hoffnungen, aus dir könnte eine zweite Mary Toliver werden.«
»Ich bin eine
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