Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass die anderen sich entfernten. Ollie und sein Vater, um Lucy daran zu hindern, dass sie sich zwischen sie und Percy drängte, und Miles, um Jeremy und Beatrice zu begrüßen. »Ich hatte Angst«, gestand sie schließlich. Sie hatte gewusst, dass das seine erste Frage an sie sein würde, und beschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Angst?«
»Ich … konnte dir nicht schreiben, was du lesen wolltest. Du warst im Krieg, und ich habe befürchtet, dass meine Briefe dir größere Enttäuschung bereiten würden als mein Schweigen.«
»Du hast das Risiko überschätzt.«
»Vermutlich«, musste sie ihm beschämt beipflichten. Jede Nachricht von zu Hause wäre in ihrer Situation besser gewesen als keine. Verlegen hob sie noch einmal die Hand, um sein Gesicht zu berühren. »Ihr seid alle so dünn geworden.«
»Wenn’s nur das wäre«, meinte er.
Mary begriff, was er meinte. Sie hatten einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit verloren, wahrscheinlich ihre Unschuld. Das las sie in ihren vor der Zeit gealterten Gesichtern, die ihr zugleich vertraut und fremd waren. Wenn sie sich morgens, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem anstrengenden Tagewerk auf der Plantage machte, im Spiegel betrachtete,
konnte sie das bei sich selbst feststellen. Sie ließ die Hand sinken. »Meine Gebete, wenn auch nicht meine Briefe, haben dich begleitet, Percy. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass sie erhört wurden.« Dass er sie noch immer nicht berührt hatte, verunsicherte sie.
»Sie wurden erhört, allerdings war Ollies Bein der Preis dafür.«
Sie schlug die Hand vor den Mund. »Du meinst …?«
»Die deutsche Granate war für mich bestimmt. Er hat mir das Leben gerettet.«
Bevor sie etwas sagen konnte, gesellte Miles sich mit gerunzelter Stirn wieder zu ihnen. »Mary, wann gehen wir? Ich möchte nach Hause, Mama sehen.«
»Außerdem könnten die Jungs eine Mütze voll Schlaf vertragen«, fügte Percy hinzu. »Sie haben im Zug kein Auge zugetan.«
»Du auch nicht«, meinte Miles und schlug ihm spielerisch gegen die Schulter.
Da entdeckte Mary Beatrice, die wie ein großer schwarzer Vogel auf sie zuflatterte, die bunt gekleidete Lucy und Jeremy mit einem Willkommensstrauß im Schlepptau. »Die Warwicks haben mich mitgenommen, Miles«, gestand Mary. »Es hängt von Beatrice ab, wie wir nach Hause kommen.«
»Es ist genau wie erwartet«, verkündete Beatrice verärgert. »Ich habe Bürgermeister Harper gebeten, die Parade erst später in der Woche zu veranstalten, wenn wir alle ein bisschen Zeit zum Durchatmen hatten, aber er will allen eine zweite Fahrt in die Stadt ersparen. Abel möchte Ollie nach Hause bringen. Der arme Junge ist völlig erschöpft.«
»Miles auch«, sagte Mary. »Außerdem will er Mama so schnell wie möglich sehen.«
»Tja, wir passen nicht alle in den Packard«, erklärte Lucy und drückte sich, die Augen auf Mary gerichtet, an Percy.
»Das ist uns klar, Lucy.« Beatrice bedachte sie mit einem säuerlichen Blick. »Miles, mein Lieber, du und Mary, ihr begleitet Abel, und so gegen vier treffen wir uns alle bei uns und fahren von dort aus in die Stadt. Das gibt den Jungs Zeit, sich ein wenig zu erholen.«
Zustimmendes Gemurmel, während Gepäck sortiert und hochgehievt wurde. Beatrice nahm ihrem Mann die Blumen ab und drückte sie Lucy in die Hand. »Hilf mir doch freundlicherweise, die zum Wagen zu bringen, Lucy«, bat sie sie.
»Aber ich …«, widersprach Lucy zwischen den Gladiolenstängeln hindurch, die ihr Gesicht fast verdeckten.
»Nun mach schon«, wies Beatrice sie an und zwinkerte ihrem Sohn und Mary über die Schulter zu, während sie Lucy vor sich herscheuchte.
Sobald sie allein waren, nahm Percy die Hände aus den Hosentaschen und legte sie Mary auf die Schultern. »Ich bringe dich und Miles heute Abend nach Hause, wenn der ganze Zirkus vorbei ist«, erklärte er. »Stell dich drauf ein, länger aufzubleiben, damit wir uns unterhalten können. Schlag mir diese Bitte nicht ab, Mary.«
»Gut«, antwortete sie mit leiser Stimme.
Nun lächelte er zum ersten Mal. »Braves Mädchen«, sagte er und ließ rasch einen Finger über das Grübchen an ihrem Kinn gleiten, bevor er seinen Eltern und Lucy zum Packard folgte.
VIERZEHN
M ary wartete im Salon, während Miles nach oben ins Zimmer ihrer Mutter ging. Die Arme fest um den Leib geschlungen, schaute sie von einer der Verandatüren hinaus auf den bis vor wenigen Jahren noch
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