Die Erben
schlechter und langsam begann sich der Raum zu drehen. Ich öffnete den Mund, um mehr Luft einatmen zu können und schloss die Augen.
Ich sah meine Eltern an unserem Esstisch sitzen und selbst nachdem ich mehrere Male die Augen wieder geöffnet und geschlossen hatte, verschwand dieses Bild nicht.
„Sie heißt Jessica Townsend“, erklärte Mum und rührte in ihrer Kaffeetasse herum. „Sie arbeitet in diesem kleinen Eckgeschäft in Gloucester. Du hast sie bestimmt schon mal gesehen.“
Dad nickte und stopfte sich Kekse in den Mund, ohne wirklich den Eindruck zu machen, er würde sich an eine Kassiererin erinnern. Oder an ein Eckgeschäft.
„Sie hat fünf Kinder von drei Männern und die zieht sie alleine groß. Ich glaube, ihre Mutter hilft ihr manchmal, aber die wohnt nicht hier.“
Sie nippte an ihrer Tasse.
„Vier von den Kindern sind erst zwischen zwei und sieben Jahren“, erklärte sie wichtigtuerisch weiter und rührte wieder in ihrer Kaffeetasse herum. „Der Älteste muss aber schon in Lyns Alter sein.“
„Und die hat sie von drei Männern?“, wiederholte Dad mit leiser Stimme und stopfte sich einen neuen Keks in den Mund.
„Ja, von drei Männern“, nickte Mum. „Der erste Mann ist kurz nach der Geburt ihres Sohnes verunglückt. Damals waren die Beiden erst siebzehn Jahre alt. Und die anderen Männer sind immer abgehauen. Der Letzte sogar in der Nacht, in der sie ihre jüngste Tochter bekommen hat.“
Mum wandte sich an mich. „Vielleicht kennst du ja ihren Sohn“, meinte sie zu mir.
Ich riss die Augen auf und schnappte nach Luft.
Joe sah überrascht zu mir und runzelte die Stirn.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt und ich zwang mich, zu nicken.
„Ja“, antwortete ich hastig. „Ich bin nur- Diese Sache da, mit der Frau und dem verwüsteten Haus. Das ist- Es ist furchtbar.“
Avas Dad nickte. „Das ist es wirklich. Jessicas Mutter ist heute aus Washington angereist-“
Wieder blieb mir kurz die Luft weg und mein Magen rebellierte erneut.
„-und wohnt mit den Kindern in einem Gästezimmer in
Martha‘s Bed Breakfast
. Ihr Sohn Ennis geht doch mit euch zur Schule. Vielleicht könnt ihr ihn ein wenig aufmuntern und unterstützen.“
Ich nickte abwesend und stand zittrig von der Couch auf. „Das ist eine gute Idee“, nickte ich, ohne meine Worte selbst zu hören. „Das machen wir. Ich muss jetzt aber gehen. Hausaufgaben.“
Ava und Joe warfen mir verdutzte Blicke zu.
Mitgefühl hin oder her, mein Auftritt musste verwirrt und eigenartig wirken.
Doch ich ignorierte es, taumelte ins Bad und schälte mich aus dem Pyjama.
Mit knappen Worten verabschiedete ich mich und lief wie ferngesteuert aus dem Haus. Das Fahrrad neben mir her schiebend trottete ich die Straße hinab und versuchte, wieder klar denken zu können.
War Ennis Townsend der Sohn von Thomas E. Collins, der 1993 in Washington D.C. tödlich verunglückt war?
War Ennis der sechste Erbe?
Und warum in alles in der Welt hatte ich gerade eine Vision?
Ich kramte mein Handy hervor, wählte Simons Nummer und legte wieder auf.
Dann wählte ich sie erneut und legte doch wieder auf.
Was, wenn es nur ein Zufall war?
Was, wenn es in Gloucester einfach nur stärker gestürmt hatte, als in Cape Gale?
Vielleicht wohnte Ennis am Stadtrand, wo der Sturm ungebremst-
Schwachsinn
, motzte ich mich an und schmiss den Kopf in den Nacken.
Es gibt keine Zufälle mehr, sieh das endlich ein!
Erneut hob ich mein Handy hoch und diesmal ließ ich es klingeln.
„Ja?“, meldete sich Simon, doch ich bekam keinen Ton heraus. „Lyn?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ja, ich bin hier.“
„Was ist passiert?“ Simon wirkte alarmiert und ich runzelte die Stirn.
„Woher weißt du, dass etwas passiert ist?“
„Weil du mich anrufst.“ Er lachte auf. „Ich bin nicht so realitätsfern zu glauben, das sei Sehnsucht.“
Ich wippte mit dem Kopf. „Mmh.“
„Wow“, meinte er. „Kein sarkastischer Kommentar. Das muss ernst sein.“
Ich schloss die Augen und legte meine Hand an die Stirn. „Ich weiß, wer der sechste
Erbe
ist. Und ich hatte eine Vision, obwohl ich wach war.“
Es dauerte kurz, bis Simon reagierte. „Was meinst du, du weißt, wer der sechste
Erbe
ist? Das wissen wir doch seit gestern.“
Ich schüttelte den Kopf. „Dieser Collins hatte einen Sohn.“
„Einen Sohn?“, wiederholte Simon. „Wie hast du das herausgefunden?“
„Die Vision, die ich erwähnt habe?“
„Und wer soll der Sohn
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