Die Erbin
besser, sie war auf das Schlimmste vorbereitet. Portia fühlte mit ihrer Mutter mit, doch es frustrierte sie, wie labil Lettie war. Manchmal hielt sie tapfer durch, dann wieder brach sie völlig zusammen. Es gab keinerlei Garantie dafür, dass ihre Aussage reibungslos durchgehen würde.
Denken Sie an die Regeln, Lettie, sagte Jake immer wieder. Lächeln Sie, aber nur wenn Ihnen wirklich danach zumute ist. Sprechen Sie langsam und deutlich. Sie dürfen ruhig weinen, wenn Sie zu aufgewühlt sind. Sagen Sie nichts, wenn Sie sich nicht sicher sind. Die Geschworenen sehen genau hin, denen entgeht nichts. Blicken Sie sie von Zeit zu Zeit an, seien Sie selbstbewusst. Lassen Sie sich von Wade Lanier nicht aus dem Konzept bringen. Ich bin immer da, um Sie in Schutz zu nehmen.
Harry Rex hätte gern seinen Senf dazugegeben. Hier geht es um vierundzwanzig Millionen Dollar, also legen Sie gefälligst die Vorstellung Ihres Lebens hin!, hätte er am liebsten gebrüllt. Aber er beherrschte sich.
»Uns reicht’s, Jake«, sagte Portia, als Harry Rex mit einem Bier zurückkam. »Wir fahren jetzt nach Hause, setzen uns auf die Veranda und reden noch ein wenig; morgen früh sind wir dann wieder hier.«
»In Ordnung, ich glaube, wir sind alle müde.«
Als sie weg waren, gingen Jake und Harry Rex nach oben und setzten sich auf den Balkon. Die Nacht war warm und klar, eine perfekte Frühlingsnacht, die sie leider nicht recht zu schätzen wussten. Jake nippte an einem Bier und entspannte sich zum ersten Mal nach vielen Stunden.
»Hast du von Lucien gehört?«, fragte Harry Rex.
»Nein, aber ich habe vergessen, den Anrufbeantworter abzuhören.«
»Sei froh. Wir können uns glücklich schätzen, dass er in Alaska sitzt und uns hier nicht die Ohren volljammert, was wir heute alles falsch gemacht haben.«
»Dafür habe ich ja dich, was?«
»Stimmt, aber bisher habe ich nichts zu meckern. Du hattest einen guten Tag, Jake. Du hast ein gutes Eröffnungsplädoyer gehalten, das die Geschworenen erreicht hat und das sie zu schätzen wussten, dann hast du zwölf Zeugen aufgerufen, die alle als glaubwürdig rüberkamen. Die Beweise sprechen für dich, zumindest bis jetzt. Besser hätte es nicht laufen können.«
»Und die Geschworenen?«
»Die mögen dich, aber es lässt sich noch nicht sagen, ob sie Lettie mögen oder nicht. Das wird sich morgen herausstellen.«
»Der Tag morgen ist entscheidend, Kumpel. Lettie kann den Prozess für uns gewinnen oder verlieren.«
43
Die Anwälte trafen sich am Mittwochmorgen um 8.45 Uhr in Richter Atlees Zimmer und waren sich darüber einig, dass es keine offenen Anträge oder Fragen gab, die zu klären waren, bevor das Verfahren seinen Gang nahm. Den dritten Tag in Folge wirkte der Richter höchst agil, geradezu hyperaktiv, als wäre die Aufregung um diesen großen Prozess der reinste Jungbrunnen. Die Anwälte waren die ganze Nacht wach gewesen, hatten gearbeitet oder sich das Gehirn zermartert und wirkten so zerschlagen, wie sie sich fühlten. Aber der alte Richter brannte darauf loszulegen.
Im Sitzungssaal begrüßte er alle, bedankte sich bei den Zu schauern für ihr engagiertes Interesse am amerikanischen Rechts system und wies den Gerichtsdiener an, die Geschworenen hereinzuführen. Als alle Platz genommen hatten, begrüßte er sie herzlich und fragte, ob es irgendwelche Probleme gegeben habe. Unzulässige Kontaktaufnahmen? Irgendwas Verdächtiges? Fühlte sich jeder gut? Sehr schön! Mr. Brigance, fahren Sie fort.
Jake erhob sich. »Euer Ehren, die Antragsteller rufen Mrs. Lettie Lang auf.«
Portia hatte ihr geraten, nichts auf Figur Geschnittenes oder Enges zu tragen, das auch nur annähernd sexy wirken mochte. Früh am Morgen, lange vor dem Frühstück, hatten sie sich wegen des Kleides gestritten. Portia hatte sich durchgesetzt. Es war ein marineblaues Baumwollkleid mit losem Gürtel, das zwar adrett wirkte, aber von einer Haushälterin genauso gut bei der Arbeit getragen werden konnte; in der Kirche hätte sich Lettie damit nicht blicken lassen. Die Schuhe waren Sandalen mit flachem Absatz. Kein Schmuck. Keine Uhr. Nichts, das darauf hindeutete, dass sie besonders flüssig war oder einen Geldsegen erwartete. Im vergangenen Monat hatte sie aufgehört, ihre grauen Haare zu färben. Jetzt hatten sie ihre natürliche Farbe, und sie wirkte keinen Tag jünger als ihre siebenundvierzig Jahre.
Sie stotterte praktisch, als sie schwor, die Wahrheit zu sagen. Hinter Jakes Stuhl saß Portia und
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