Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
auf die Herolde enthielt. Dem verschimmelten Einband und der Handschrift nach zu urteilen, war es sehr alt. Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger unter der spinnwebartigen Schrift entlang und versuchte, den Sinn der Worte zu erfassen. Dabei wurde ihr klar, dass es in den frühen Jahrhunderten nach der Ankunft der Derai auf Haarth geschrieben worden sein musste.
» Soweit es die Völker jenseits des Walls betrifft, mögen sie auch sonst sehr unterschiedliche Bräuche haben, sind diese vereint in ihrer Feindseligkeit gegen unsere Derai-Allianz mit ihren großen Festungen und der aufmerksamen Wache gegen einen Feind, den sie bisher noch nicht wahrnehmen. Zweifellos fürchten sie auch unsere Stärke entlang der Grenzen ihrer eigenen, zerstrittenen Reiche. In letzter Zeit haben sie sich allerdings bemüht, uns besser kennenzulernen, und haben Abgesandte der Kaste oder Gesellschaft, die sie » Herolde « nennen, zu uns geschickt. Die Herolde sind für mich in gewisser Weise interessant, da sie durchweg in Paaren entsendet werden und in einer Art Symbiose funktionieren, die wir noch nicht erfassen können. Diese wird sehr offensichtlich dadurch demonstriert, dass sie wie aus einem Munde sprechen. Wir fragen uns ebenfalls, welcher Gestalt ihre Mächte sind. Selbst die stärksten und unauffälligsten unserer Gedankensprecher können sie nicht lesen. Ich finde das beunruhigend, doch unsere Adepten scheinen davon überzeugt, dass uns ihr Geist schlicht und einfach noch fremd ist. Schließlich sind wir niemals zuvor einem Volk begegnet, dessen Mächte den unsrigen ebenbürtig sind – sieht man einmal von dem Schwarm mit dem verfluchten Namen ab … und dessen Schergen kann man nicht als ›Volk‹ bezeichnen. Dennoch, ich bin verwundert und davon überzeugt, dass wir mehr über diese Herolde lernen müssen. «
Die Schrift fuhr fort, doch die weiteren Einträge beschäftigten sich alle mit dem Leben der Derai auf dem Wall. Schließlich veränderte sich die Handschrift, als ob jemand anderes die Aufzeichnungen übernommen hätte. Herolde wurde nicht mehr erwähnt, obwohl Malian sich in die verblichenen Seiten vertiefte und noch verschiedene andere Bände heranzog. Die Arbeit war mühsam, und bald gähnte sie ununterbrochen. Ihre Augenlider wurden schwer. Immer wieder riss sie den Kopf hoch, der nach vorne fiel, und nahm sich vor, nur noch ein paar Seiten zu lesen und dann wieder ins Bett zu gehen.
Malian wachte im Stockfinsteren auf, hob ihren Kopf von dem Buch, auf dem er gelandet war, und erkannte, dass die Lampe wohl ausgebrannt war, während sie schlief. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Die Nacht umhüllte sie. Sie strengte ihre Ohren an, doch da war nichts zu hören. In der Bibliothek herrschte eine beinah vollkommene Stille, die aus der feuchten Luft und den winzigen Geräuschen im Raum bestand. Doch dann hörte sie es, das Ding, das sie aus tiefem Schlaf gerissen hatte und sofort hellwach sein ließ. Es handelte sich nicht um ein Geräusch von außen, sondern eine Stimme, die klar und deutlich in ihrem Geist erklang. Die Stimme sprach nur ein Wort, das wie ein Stein in die Stille fiel: » Flieh! «
3 Geflüster in der Finsternis
Kalan versteckte sich vor seinem Schicksal im Besenschrank auf der untersten Etage des Tempelviertels. Die Nachricht der erfolgreichen Expedition des Grafen hatte sich schnell in der Burg verbreitet. Kalan wollte plötzlich dringend die Kameradschaft in der Hohen Halle miterleben. Er konnte es nicht ertragen, sich mit den anderen Novizen vor sein übliches schlichtes Mahl zu setzen und sich dann wieder einem Abend in Bruder Selmors Studienzimmer zuzuwenden, um dort die Bücher abzustauben. Sein Herz brannte rebellisch, wenn er an das Gelächter und die Geschichten dachte, die die Hohe Halle füllten … und dass er davon ausgeschlossen war, nur weil er mit den alten Mächten geboren worden war. Er musste davon loskommen, der Eintönigkeit seiner Oberen entfliehen. Obwohl der Besenschrank mit seinem Durcheinander aus Wischlappen, Besen und Eimern eine armselige Alternative zum Festmahl der Heimkehr bot, konnte er hier wenigstens in Ruhe über sein Ungemach grübeln.
» Es ist nicht fair! « , flüsterte Kalan und schlug mit einer Hand auf sein Bein. » Alle außer uns dürfen zu dem Fest gehen, egal wie niedrig ihr Stand ist! « Er saß da und hatte seine Knie bis unters Kinn hochgezogen. Wütend starrte er in die Dunkelheit. Niemals hatte er Priester werden wollen. Er entstammte dem Haus des
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