Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
Labyrinth aus nicht genutzten Fluren und Lagerräumen und nicht von der Treppe, die von oben herabführte. Das machte Kalan doppelt vorsichtig. Er duckte sich und versuchte, eins zu werden mit den Schatten und den Winkeln, die von den aufgestapelten Wischtüchern und Besen geworfen wurden. Er hatte im Laufe der Jahre seines Schwänzens entdeckt, dass er seinen Geist vollkommen leeren musste. Wenn er dann nur noch an das Aussehen und die Oberfläche seiner Umgebung dachte, übersah man seine Gegenwart. Kalan hatte mit niemandem über diese Begabung gesprochen, nicht einmal mit Bruder Belan. Doch sie war sehr nützlich, besonders, wenn er unwillkommene Aufmerksamkeit vermeiden wollte.
Die Schritte kamen näher. Kalan sah die erste der schattenhaften Gestalten am Eingang des Besenschranks vorbeigehen. Sie waren schwarz gekleidet. An ihren Seiten konnte er Schwertscheiden erkennen. In den Händen hielten sie Speere, deren Spitzen wie Flammen geformt waren. Sie trugen kein Licht. Offenbar konnten sie im Dunkel des unbeleuchteten Flurs sehen.
Und das, so wusste Kalan, schloss aus, dass es sich um eine Burgwachenpatrouille handelte, die versehentlich in das Tempelviertel geraten war.
Außerdem waren es zu viele. So viele Mitglieder hatte eine Patrouille nicht. Kalan schätzte, dass es mehr als hundert waren, und schluckte schwer. Ihr Schweigen strahlte eine Bedrohung aus. Ihre Helme waren mit Hörnern und Klauen versehen. Dadurch sahen sie wie Werbiester aus. Diese Helme waren ganz anders als diejenigen der Derai. Kalan glaubte, sich daran zu erinnern, etwas Ähnliches in einem der Bücher von Bruder Selmor gesehen zu haben, doch er wusste keine genauen Einzelheiten mehr. Er schob sich noch weiter nach hinten und hielt den Atem an, weil der Anführer der Krieger stehen blieb.
Der groteske Helm des Kriegers drehte sich hierhin und dorthin, wie ein Hund, der Witterung aufnahm. Kalan konzentrierte sich verzweifelt auf die kalten, schweigenden, roh behauenen Steine, die ihn umgaben. Er wurde zu einem Stein, der vergessen in der Dunkelheit lag. Die Stimme, die sprach, war ebenfalls kalt. Zischend und metallisch krächzte sie in der Stille. » Ich dachte, ich hätte etwas gespürt, eine weitere Präsenz. « Die Worte sickerten langsam in Kalans Bewusstsein und filterten durch das Gewicht des Steins. Sie waren merkwürdig betont, aber er konnte sie verstehen. » Nur einen kurzen Moment lang. Aber hier ist nichts. «
» Das hier ist ein Tempel « , antwortete eine andere Stimme. Sie war so leidenschaftslos wie Eisen. » Sogar hier unten wird man Kräfte wahrnehmen. Wenn du nichts weiter sehen kannst, wird es wohl nur ein Echo gewesen sein. «
Der erste Sprecher bewegte sich nicht. » Immer noch nichts « , sagte er nach einer langen Weile.
» Wir müssen weiter « , sagte die Eisenstimme. » Die anderen werden bald in Position sein. Wir dürfen nicht versagen. « Er hielt inne. » Was ist mit unserem … Verbündeten? Ist er in Sicherheit? «
» Vorerst « , antwortete der andere. In dem Zischen seiner Stimme lag ein Hauch von Anspannung. » Ich weiß aber nicht, wie lange ich ihn in Schach halten kann. «
Die Finsternis wurde bei seinen Worten noch dunkler. Kalan spürte eine Gier, einen unersättlichen Willen, der versuchte auszubrechen. Dieser Wille war ausgehungert und fast verdurstet. Seine Macht streifte Kalans Geist wie eine dunkle Schwinge. Verzweifelt klammerte Kalan sich an die rauen Steine seiner Umgebung. Der erste Sprecher grunzte, als ob er ein Gewicht höbe. Die Krieger legten ihre Hände an die Waffen. Der Krieger mit der harten Stimme fluchte leise und gestikulierte dann, damit sie vorrückten. Wie aus einem Guss gingen sie vorwärts und strömten schweigend die Treppe hinauf.
Kalan zitterte am ganzen Körper. Nachdem der tödliche Wille seinen Geist berührt hatte, war ihm kalt und schlecht. Vorsichtig ließ er das Bild des Steins fahren und stieß seinen Atem aus. Er merkte, dass das Blut in seinen Ohren hämmerte. » Der Schwarm der Finsternis « , flüsterte er. Dieser dunkle Wille war unverwechselbar. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, dass er ein Geistsprecher wäre, um sofort Alarm zu schlagen.
» Die Eindringlinge mussten durch die Alte Burg hereingekommen sein « , dachte er. Bruder Belan hatte immer gesagt, dass es geheime Türen gab, die von der verlassenen Festung ins Tempelviertel führten.
» Doch woher « , flüsterte Kalan, » weiß der Schwarm das? « Er schüttelte den
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