Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
Oder wenigstens besorgt darüber sind, dass sie nicht jederzeit die Burg verlassen können. Stattdessen begeben sie sich zu den Festungsmauern. « Sie zögerte. » Was, wenn sie Spione sind? «
Sie beobachtete Haimyr scharf, aber er schüttelte nur seinen Kopf und unterdrückte ein Lachen. Sie begannen den Aufstieg über eine steile Wendeltreppe zu den Festungsmauern. Der Aufstieg war mühsam, aber Nhairin biss die Zähne zusammen und ging weiter. Sie fragte sich, welchen Eindruck die bitterkalten und rasierklingenscharfen Klippen des Walls auf die Außenstehenden machen würden. Auch an einem guten Tag fegte der Wind so stark über die Wehrgänge, dass die Wachen kaum mehr tun konnten, als hin und wieder Patrouille zu laufen. Die Hauptwache wurde von Beobachtungspunkten aus absolviert, die an strategisch wichtigen Stellen auf der Burgmauer verteilt waren.
Sie selbst hatte in den vergangenen Jahren dort Wache gehalten und wusste, dass der sandhaltige Wind urplötzlich messerscharf werden konnte. Und an einem schlechten Tag … nun, an einem schlechten Tag traute sich niemand, auch nur auf die Wehrgänge hinauszuschauen, geschweige denn auf ihnen herumzulaufen. Die Wachen schlugen die Sturmläden zu, kauerten sich unter ihren Umhängen zusammen und verschlossen Ohren und Gedanken vor der Stimme des Sturmberserkers. Einige behaupteten, dass die Stimme Unvorsichtige in den Wahnsinn treiben konnte. Der Wind selbst war stark genug, um einem das Fleisch von den Knochen zu reißen.
Heute war es allerdings mild und die Sturmläden offen. Das erlaubte Nhairin einen Blick durch das verstärkte Glas hinaus über die riesigen Verteidigungsanlagen und hinauf zu dem durcheinanderwirbelnden Grau des Himmels. Das Bild war trostlos und erdrückend. Es wunderte Nhairin nicht, dass die Herolde nicht geblieben waren.
» Ein abschreckender Ort « , kommentierte Haimyr. Dennoch war sein Tonfall unbeschwert.
» Ja « , sagte Nhairin und wandte sich zum Gehen. Dabei ignorierte sie die wissenden Blicke, die die Wachen austauschten. Sie selbst hatte früher auch diese Blicke ausgeteilt, aber jetzt spürte sie nur Erleichterung. Die inneren und äußeren Türen des Wachraums schlugen zu und sperrten das tiefe Heulen des Windes aus. Sie und Haimyr stiegen schweigend hinab und betraten das Netzwerk aus Wehrgängen, das den Kriegerhof umgab.
Hier fanden sie endlich Garan und die Herolde, die stehen geblieben waren, um das Gewimmel in der Garnisonsübungshalle zu betrachten. Waffen wurden hereingetragen und an der Wand entlang aufgestellt, Vorräte wurden sortiert und gepackt und die Wachen ihren Gruppen zugeteilt. Nhairin fragte sich mit einem Seitenblick, ob die Herolde all dies sehen sollten. Dann bemerkte sie, dass sich die Aufmerksamkeit der beiden auf eine einzelne Gestalt direkt unter ihnen richtete. Die Kriegerin schien sich des Lärms und der Geschäftigkeit gar nicht bewusst zu sein. Ihr Ausdruck war abwesend, und sie glitt durch die Übungseinheiten. Jede Bewegung war geschmeidig, kraftvoll und scheinbar ohne jede Anstrengung, obwohl sie einen Verband um eine Schulter trug.
» Asantir « , vermutete Nhairin und erkannte den charakteristischen Stil noch bevor sie das Gesicht der Kriegerin sah. Die Muster waren ihr so vertraut wie ihr eigener Atem. Doch auch sie konnte sich dem Zauber nicht entziehen, als eine Übungseinheit mit der nächsten verschmolz. Das Ritual war mindestens so alt wie die Derai-Allianz.
» Also wirklich « , murmelte Haimyr, » sie ist wirklich sehr gut. «
Nhairin zog eine Schulter hoch, doch die Antwort kam von Garan. » Gut? « , sagte er mit freundlicher Geringschätzung. » Sie ist die Beste unter uns. «
Die blonde Heroldin schaute hoch. » Was braucht man « , fragte sie, » um die Beste unter Euch zu sein? «
Ihre Stimme war wunderschön, wie kühles Wasser, das über Steine floss. Nhairin konnte nicht umhin nachzuschauen, ob das Gesicht zu der Stimme dasselbe war, das sie in dem Schutzfeuer gesehen hatte. Sie fand, dass die Augen ähnlich waren, leuchtend und tief – und dass es schwer war, ihrem Blick standzuhalten. Nhairin wandte ihren Blick ab und konzentrierte sich stattdessen darauf, was Garan sagte.
» Eignung, selbstverständlich, aber das alleine reicht nicht. Man muss von Kindheit an jeden Tag unermüdlich trainieren. Aber selbst das ist nicht genug. « Garan hielt inne und zuckte dann mit seinen Schultern. » Sie ist der Hauptmann der Ehrenwache, das heißt, sie ist die Beste. «
Weitere Kostenlose Bücher