Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
antwortete er ein wenig grimmig. » Ich habe den heutigen Abend meiner Trauer gewidmet, aber morgen werde ich das Nötige tun, um das Haus der Nacht zu sichern. «
» Ich glaube, das wirst du « , sagte sie. In ihrem Ausdruck war ein Hauch Traurigkeit zu sehen. So schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Traurigkeit auch wieder. Sie murmelte mit ihrem entrückten, zarten Lächeln: » Denn bist du nicht Derai, streng, finster und pflichtbewusst? «
Auch der Graf lächelte und zog sie in seine Arme. » Du bedeutest mir so viel « , murmelte er, » meine Frau aus dem Winterland. « Vielleicht sogar noch mehr, fügte er insgeheim hinzu, weil du weder streng noch finster bist und nicht Teil meiner Pflicht.
Er erinnerte sich, wie er sie das erste Mal gesehen hatte: großgewachsen und hell wie die weißstämmigen Birken in ihrem Winterland. Ihre Augen grau wie der Himmel. Er hatte nie die Absicht gehabt, noch einmal zu heiraten. Allen Überredungskünsten hatte er widerstanden, besonders von denen, die sagten, es sei seine Pflicht als Erbe und Graf. Er hatte auch nicht erwartet, jemals in das Winterland zu reisen; nicht nachdem er zum Wall zurückbeordert worden war, um sein Erbe anzutreten, und ganz bestimmt nicht, nachdem er Graf geworden war. Der Platz des Grafen der Nacht war in der Burg der Winde, der am weitesten vorgelagerten Feste der Derai auf dem Wall der Nacht.
» Erstes und ältestes. « Er wiederholte den Spruch für sich und dachte, wie wenig er jenseits seiner Pflichten doch erwartet hatte … schon überhaupt keine Liebe.
Ein früh einbrechender Winter hatte Schicksal gespielt, als er vor drei Jahren die Grenzen abgeritten war. Er und seine Gruppe wurden von einem starken Sturm überrascht. Bei dem Gedanken, wie der Wind getobt und dabei Schnee und Eis übers Land gefegt hatte, schauderte er heute noch. Der Sturm hatte seine Gruppe vor sich her weiter und weiter vom Wall weggetrieben, bis sie die Grenze zum Winterland erreichten. Viele starben, bevor sie dort ankamen. Der Graf wusste, dass alle gestorben wären, hätte das Wintervolk sie nicht aufgenommen. Er erinnerte sich, wie er ausgemergelt und erschöpft in die gedämpfte, rauchige Wärme eines aus Leder und Filz gebauten Zelts gestolpert war und Rowans Gesicht das erste Mal gesehen hatte: blass und wunderschön zwischen den wettergegerbten, von tiefen Falten durchzogenen Gesichtern des Jagdführers und der Schamanen. Der Schnee lag hoch, aber das Licht ihrer Augen war wie der Frühling und brach das Eis auf, das sein Herz seit neun Jahren – seitdem Nerion fortgeschickt worden war – eingeschlossen hatte, und ließ es dahinschmelzen.
Er erinnerte sich an die Bestürzung seines Gefolges, als ihnen klar wurde, dass Rowan Birkenmond an seiner Seite mit zur Burg der Winde zurückreiten würde – und an Rowans Gelächter, als er ihr erklärte, dass die Gesetze der Derai eine Heirat zwischen ihnen nicht zuließen. Sie stand aufrecht und hochgewachsen in dem Weiß und Blau eines glitzernden Wintertags. Ihr Atem bildete Wolken in der eiskalten Luft. » Heirat « , sagte sie und zuckte mit den Schultern. » Beim Wintervolk werden zwei Menschen durch Liebe und Hingabe aneinander gebunden, nicht durch eine Zeremonie. Ich liebe dich, mein finstergesichtiger Lord der Derai. Für mich ist wichtig, bei dir zu sein, nicht die äußeren Formalitäten deines Volkes oder meines. «
In dem Moment hatte er sie unendlich geliebt. Er liebte sie immer noch, sogar noch mehr, falls das überhaupt möglich war, weil sie drei lange Jahre in der Burg der Winde inmitten der empörten und oft feindlichen Derai ausgehalten hatte, nur, um bei ihm zu sein.
Doch jetzt sah er seine Pflicht wieder deutlich und kalt vor sich. Wenn er seine Erbin an das Tempelviertel verlor, würde er wieder heiraten und eine formelle Bindung mit einer Frau von Derai-Blut eingehen müssen, um einen weiteren Erben für das Haus der Nacht zu bekommen. Er konnte eine Ehefrau nicht dadurch beleidigen, dass seine Geliebte in derselben Burg wohnte, oder von ihr erwarten, dass sie eine solche Situation tolerierte. Ebenso wenig würde er Rowan bitten, in einer der Burgen unter Fremden unwillkommen und verachtet zu hausen. Doch er konnte es auch nicht ertragen, sie fortgehen zu lassen.
Die Arme des Grafen schlossen sich noch enger um seine Geliebte. Er atmete den Geruch ihrer langen Haare ein, während er sich einer Zukunft gegenübersah, die kälter und trostloser war als jeder Winter. » Ich
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