Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
über gar nichts Bescheid wusste, nur dass er Angst vor der Zukunft hatte. Doch selbst in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht vorgestellt, dass der Krieg ein halbes Menschenalter dauern würde.«
Er betrachtete nachdenklich seine Hand. Die Erinnerung war immer gegenwärtig, und mit ihr das Gefühl, Alexandra Khlesls Hand in der seinen zu halten. Der Himmel war blau gewesen über Prag, das Gras im verwilderten Garten unterhalb der Burg warm vom Sonnenschein, und Alexandra hatte seinen Händedruck erwidert. Sie hatte ihn um Zeit gebeten. Er hatte gewusst, dass Zeit das Einzige war, das sie nicht hatten. Dennoch war der Augenblick vollkommen gewesen – und ein Augenblick geblieben. Er war verweht wie alle Hoffnungen damals, der Krieg möge doch nicht ausbrechen oder er möge kurz sein oder er möge nicht so schlimm werden.
Nein, korrigierte er sich. Es hatte noch einen zweiten Augenblick gegeben. Er hatte eine Nacht gedauert. Er hatte in ihm die unauslöschliche Sehnsucht geweckt, dass die Nähe,die zwischen ihnen in dieser Nacht geherrscht hatte, für immer andauern möge.
»Fast alle, die damals den Krieg gewollt haben, sind mittlerweile tot«, sagte er. »Gott sei ihren Seelen gnädig, wenn sie aus dem Fegefeuer herausschauen und sehen, was sie angerichtet haben: Kaiser Ferdinand, der damals noch König von Böhmen war; Kurfürst Friedrich von der Pfalz, den die protestantischen Stände zum böhmischen Gegenkönig zu Ferdinand gewählt haben und der dann der Winterkönig genannt wurde, weil er nur einen Winter lang die Krone trug; Colonna von Fels, Matthias von Thurn, Albrecht Smiřický, der noch im Herbst 1618 an einer Lungenentzündung starb, Graf Andreas von Schlick, der nach der Schlacht am Weißen Berg hingerichtet wurde, und die allesamt am Fenstersturz der königlichen Statthalter beteiligt waren … ist es nicht eine Ironie, dass die Männer, die sie damals töten wollten, Graf Martinitz, Wilhelm Slavata und Philipp Fabricius, dagegen noch leben …?«
»Gott hat die Protestanten bestraft. Sie haben den Krieg begonnen!«, meldete sich jemand.
Wenzel schüttelte den Kopf. »Begonnen? Wer will sagen, wer diesen Krieg begonnen hat? Martin Luther, weil er seine Thesen an die Kirche in Wittenberg schlug? Oder Papst Leo X., weil er mit dem Ablasshandel eine Perversion aus dem heiligsten christlichen Sakrament gemacht hat, nämlich der Buße, und Luther dagegen auf begehrte?«
»Das ist über hundert Jahre her, ehrwürdiger Vater!«
»Manchmal braucht ein Krieg hundert Jahre, um wirklich auszubrechen. So gesehen sollten wir froh sein, dass er nach dreißig Jahren schon zu Ende ist, oder nicht, Brüder?«
»Glaubst du denn wirklich, dass es vorbei ist?«
»Die Vertreter aller Krieg führenden Mächte haben seit dem Spätherbst 1644 in Münster und Osnabrück verhandelt. Nachdem die Franzosen, allen voran ihr Kardinal Richelieu,die Friedensbemühungen von 1636 hintertrieben haben, sind sie jetzt diejenigen gewesen, die sich für die neuen Verhandlungen eingesetzt haben.«
»Ist das wirklich wahr, ehrwürdiger Vater?«, fragte einer der jungen Mönche aus der vorgeblichen Putzkolonne. »Die Gräueltaten sind doch nicht weniger geworden in den letzten Jahren, nach dem, was man so gehört hat. Das kann doch nicht sein, dass die Herren am Verhandlungstisch sitzen, und ihre Heere verwüsten weiterhin das Land!«
»Na ja«, Wenzel räusperte sich, »die Herren sind die Herren, nicht wahr? Kennst du nicht die Geschichte von den Bauern, die Wurzeln und alte Knollen und die Eicheln vom Vorjahr aus der Erde gruben, um ihre Kinder vorm Verhungern zu bewahren, als eine Jagdgesellschaft ihres Herzogs vorbeikam und sich dort zum Essen niederließ, wo die Bauern mit den bloßen Händen das Feld umpflügten?«
Der junge Mönch schüttelte den Kopf.
»Die Herzogin und die Hofdamen baten die Lakaien, die Bauern zu verjagen, weil ihr Anblick die Gemüter beleidigte.«
»Mögen sie alle in der Hölle braten!«, sagte der junge Mönch.
»Nein, möge Gott ihnen verzeihen und ihnen die Sünde vor Augen führen, die sie begangen haben.«
Der junge Mann schlug die Augen nieder. Keinem von ihnen waren die Kriegshandlungen und deren Begleiterscheinungen fremd. Das Kloster von Raigern lag vor den Toren Brünns. 1643 und nochmals 1645 hatten schwedische Truppen die Stadt belagert, letztlich erfolglos; doch noch heute zeugten leere Bauernhöfe, verbrannte Dörfer und abgeholzte Wälder in der weiteren Umgebung
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