Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
der schlanke Mann war ihrem schwerfälligen Sohn überlegen gewesen und hatte ihn niedergerungen. Und jetzt …
… Melchiors Züge verzerrten sich. Die Pistole in seiner Faust begann zu zittern. Das Pferd wieherte.
»Ich töte ihn!«, brüllte Pater Silvicola, aus dessen Mund Blut lief.
Die restlichen Soldaten rannten um die Kutsche herum. Agnes sah einen stehen bleiben und eine Muskete auf Melchior richten. Die Pistole in Melchiors Faust ging los, und der Soldat warf sich zu Boden. Hinter ihm spritzte eine Dreck- und Schneefontäne auf. Das Pferd tänzelte einmal um die eigene Achse. Melchiors Gesicht war wie Andreas’ eine Maske aus Zorn, und in diesem Moment sahen sie aus wie Zwillingsbrüder.
»Flieh!«, schrie jemand. Agnes erkannte, dass sie es selbst gewesen war.
Das Pferd stieg erneut mit um sich schlagenden Vorderhufen. Der Soldat mit der Muskete sprang auf und brachte seine Waffe wieder in Anschlag. Melchior schleuderte die leer geschossene Pistole weg und sprengte auf die Handvoll Männer zu. Sie brachten sich mit Hechtsprüngen in Sicherheit, der Mann mit der Muskete tauchte erneut in die Ackerfurche. Melchior riss am Zügel, das Pferd wendete in vollem Galoppund sprengte davon. Melchior kippte im selben Moment, in dem die Muskete des Soldaten losging, seitlich aus dem Sattel. Die Kugel verfehlte Pferd und Reiter. Melchior hing einen Augenblick über die Schulter des Pferdes, als würde er zu Boden stürzen, dann sah Agnes, dass er die Pistole des getöteten Soldaten vom Boden aufraffte und sich wieder emporzog. Das Pferd schlug einen Haken, ein weiterer Schuss ging fehl, und dann war Melchior außer Reichweite der Gewehre und galoppierte über das Feld davon, verfolgt von den wütenden Flüchen der Fußsoldaten.
Pater Silvicola richtete den Blick auf Agnes, die nichts anderes tun konnte, als ihn zurückzugeben. Die hellen Augen des Paters waren beinahe blind vor Wut. Sie sah, dass die Faust, die die Waffe gegen Andreas’ Schläfe drückte, bebte. Karina schluchzte.
Agnes hob beide Hände. »Bitte …«, sagte sie.
Die Faust des Jesuiten zuckte wie im Fieber. Andreas keuchte, als der Lauf eine Schramme in seine Schläfe grub.
»Bitte …«, sagte Agnes erneut. Sie zitterte am ganzen Leib. Vor ihren Augen blitzte immer noch der Anblick Melchiors auf, als sie dachte, man hätte ihn erschossen.
»Bitte …«, flüsterte sie ein drittes Mal.
Mit schier übermenschlicher Anstrengung hob der Jesuit die Pistole. Andreas ließ den Kopf seufzend sinken. Die Pistole schwang unendlich langsam herum und zielte dann auf Agnes. Sie blickte über die Mündung hinweg in die flackernden Augen Pater Silvicolas, und stärker noch als der Anblick der Waffe, die auf ihren Leib zielte, erschütterte sie die Wut, die sie darin erkannte, die Wut eines Mannes, der nur ein einziges Ziel in seinem Leben kannte und dem sie es beinahe aus den Händen gerissen hätte.
»Wenn es sein muss«, sagte sie und war selbst erstaunt über die Ruhe, die sich über sie senkte, obwohl ihr Zittern immer stärker wurde. »Besser ich als meine Kinder.«
19.
Alles geschah gleichzeitig.
Wenzel, der schrie: »Schützt sie!«
Der kleine Bruder Cestmir, der mit fliegenden Armen und Beinen neben der Flanke von Alexandras Pferd herrannte und sich wie ein Akrobat hinter ihr auf den Gaul schwang. Johannes’ Spießgesellen, die sich von ihrer Überraschung erholten, aber nicht wussten, worauf sie schießen sollten: auf die flüchtende Reiterin oder auf ihre Geiseln. Johannes, der herumwirbelte und mit der leer geschossenen Pistole auf Wenzel zielte, das Gesicht eine Grimasse. Die Funken, die vom Radschloss der Pistole wegsprangen, als der Hahn schnappte, und Wenzels unwillkürliches Blinzeln, als sich kein Schuss löste.
Dann brüllten die Gewehre los. Alexandra spürte einen dumpfen Schlag, als Bruder Cestmir gegen ihren Rücken prallte. Ihr Kopf flog herum.
Es war, als ob in dem Halbkreis, mit dem Johannes’ Männer die Mönche und die nackte Familie umstellt hatten, ein Gewittersturm losgebrochen wäre. Aus den Läufen der Gewehre zuckten Feuerlanzen, Funken sprühten aus den Pulverpfannen, die schlagartig hervorquellenden Pulverdampfwolken leuchteten brandrot. Wenzels Kapuze war plötzlich zerfetzt, und er fiel auf die Knie und vornüber, kaum anders als der Erschossene, der an der Kirchenpforte heruntergerutscht war. Auf dem weißen Leib der nackten Frau blühten zwei, drei dunkle Sterne auf, und es sah aus, als mache sie einen
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