Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
geschritten war und dabei noch dem einen oder anderen auf die Schulter geklopft hatte, als seien sie es, die Trost benötigten. Im Refektorium war es eisig, aber die Kälte, die vor den glaslosen Fenstern stand, war dennoch erlösend. Wenzels Hände und Füße waren Eisklumpen, doch sein Gesicht brannte. Er lehnte sich hinaus.
Johannes und seine Spießgesellen standen um einen Steinhaufen herum und gafften. Auf dem Steinhaufen drapiert, und zwar so, als sei es Absicht gewesen, dass man ihn vom Refektorium aus sehen konnte, lag ein Mann. Er hatte die Arme ausgebreitet und die Füße übereinandergeschlagen wie ein Gekreuzigter. Die Steine unter ihm waren rot von Blut. Ein paar von Johannes’ Männern bekreuzigten sich.
»Wer ist der Tote?«, flüsterte Bruder Bonifác.
»Eine von Johannes’ Wachen«, flüsterte Wenzel zurück.
Unten wandte sich Johannes um und packte den ihm zunächst stehenden Kerl am Kragen. Dieser begann zu gestikulieren. Wenzel konnte seine entsetzte Stimme bis ins Refektorium herauf hören. Er hatte nichts Falsches getan; er hatte nur, gemäß Johannes’ Befehl, langsam seine Runde um und durch das Ruinenfeld gezogen und dabei versucht, immer den gleichen Abstand zu seinem Vorder- und Hintermann zu halten. Da das Ruinenfeld riesig war, wusste man, dass man den richtigen Abstand hatte, wenn man weder Vorder- noch Hintermann zu Gesicht bekam. Dann war er um eine Ecke gebogen und hatte … das da! … gefunden. Johannes ließ den Kragen des Mannes mit einer angewiderten Geste los.
»Einer weniger von den Mistkerlen«, wisperte Bruder Bonifác, das zerschundene Gesicht zu einer ganz unmönchischen Maske böser Zufriedenheit verzerrt.
Ein zweiter Schrei ertönte von weiter weg. »Johannes! Schnell! Schnell!«
Wenzel schüttelte den Kopf.
»Zwei weniger«, sagte er und zog eine Augenbraue hoch. Er lächelte, als er sah, wie sie ihn angafften. »Das ist das Elfte Gebot, Brüder.«
»Nein«, keuchte Bruder Tadeáš, der sich an die Mauer neben der Fensteröffnung lehnte. Sein Gesicht war bleich und von einem Schweißfilm überzogen, aber er grinste. »Das ist Melchior Khlesl.«
Wenige Minuten später lagen vier tote Männer vor Johannes und dem Rest seiner Truppe. Wenzel ahnte, dass sie alle in der gleichen Weise gefunden worden waren – ausgestreckt wie am Kreuz, geopfert … von etwas getötet, das sich noch die Zeit nahm, die Leichen entsprechend zu drapieren. Der Aberglaube, der mit jedem Herzschlag mehr von den verwilderten Kerlen Besitz ergriff, drang wie ein schlechter Geruchbis herauf zu den Fenstern des Refektoriums. Der letzte überlebende Rundengänger stand mit kreidebleichem Gesicht abseits und kämpfte offenbar mit der Erkenntnis, dass er nur durch Zufall nicht zu den Kameraden gehörte, die sie von ihren verschiedenen Fundorten hierher hatten tragen müssen.
»Das ist das Werk von Melchior Khlesl?«, flüsterte Bruder Bonifác ungläubig.
»Er hat viel von seinem Vater«, erwiderte Wenzel. »Der friedlichste Mensch auf der Welt, bis er den Eindruck bekommt, dass diejenigen, die ihm am Herzen liegen, in Gefahr sind.«
Unten drehte sich Johannes um und starrte zu den Fenstern herauf. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er riss eine Pistole aus dem Gürtel und feuerte. Wenzel und die anderen zuckten zurück. Ein Stück Mauerwerk sprang außen vom Fenstersims ab, und man konnte die Kugel davonjaulen hören. Dann fand der Schuss ein Echo. Wenzel stürzte zurück zum Fenster und konnte gerade noch sehen, wie einer der Männer unten in sich zusammensackte. Vor einem der Fenster weiter vorne im Gebäude, die das Treppenhaus erleuchteten, stand eine weiße Pulverdampfwolke.
»Keiner der vier Toten hatte seine Muskete noch«, flüsterte Wenzel.
Die Männer unten wirbelten herum und rannten um die Ecke, zum Eingang des Gebäudes. Fünf Tote lagen jetzt still dort unten.
Die Mönche verließen hastig ihren Beobachtungsposten. »Zum Kamin, schnell, schnell!«, rief Wenzel hastig und zerrte Bruder Tadeáš hinter sich her. Der Unglückliche war immer noch an den Händen gefesselt. Sie stürzten hinüber. Die zwei Wachen an der Tür drehten sich unschlüssig um ihre eigene Achse. Schließlich richtete einer sein Gewehr auf die Gruppe.
»He, ihr …«, begann er. Dann stolperte er nach vorn und ließ die Waffe fallen. Ein faustgroßer Stein polterte in das Refektorium hinein. Die Augen des Mannes überkreuzten sich, und er fiel auf die Knie und dann vornüber aufs Gesicht.
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