Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
zu ruinieren und deine Mutter zur Ehe mit ihm zu zwingen. Ich war Bestandteil eines verrückten Plans, dies zu verhindern, und deine Mutter bestand darauf, dass ich vorher die Wahrheit erfahren müsse, um mich frei entscheiden zu können, ob ich diesen Plan mittragen wolle.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Melchior.
»Das Erste, was ich damals dachte, war, dass ich diesen Mann, den ich über zwanzig Jahre lang als meinen Vater betrachtet hatte, niemals wieder anders sehen könnte denn als einen Fremden, der mich zeit meines Lebens angelogen hatte. Warte, ich bin noch nicht fertig. Das Zweite, das ich dachte, war, dass all die Menschen, die ich als meine Familie gesehen hatte, mich verachten müssen, weil sie mir nicht einmal so weit vertrauten, um mir die Wahrheit zu sagen.«
»Vertrauen«, sagte Melchior mit rauer Stimme. »Das ist ein gutes Stichwort.«
»Natürlich ging es nicht um Vertrauen«, erklärte Wenzel. »Es ging darum, dass mein Vater zwanzig Jahre lang unschlüssigwar, ob ich die Bürde der Lüge tragen sollte, mit der er gedacht hatte, sein Leben mit Yolanta beginnen zu können; die Bürde der Lüge, die ich, dieser kleine, sterbenskranke, halb verhungerte Wicht in seiner verschissenen Windel und mit seinen blutigen Ekzemen am ganzen Körper, damals war!«
Melchior starrte ihn an. In seinem Gesicht arbeitete es.
»Melchior, mein Freund«, sagte Wenzel sanft. »Mein Vetter und Freund! Wir alle wollten, dass du und Andreas irgendwann die ganze Wahrheit erfahren würdet – aber bis dahin solltet ihr die Bürde nicht spüren, die es bedeutet, Wächter dieses verfluchten Buches zu sein. Selbst Alexandra weiß nicht, was mit der Teufelsbibel nach dem Ende der Geschichte in Pernstein geschehen ist. Ihr seid die Erben dieses Wächteramtes, so wie deine Eltern und mein Vater es geerbt haben von den Äbten von Braunau und den Schwarzen Mönchen, und ich bin derjenige, der versucht, die Hand über euch zu halten, wie der alte Kardinal es bei Agnes, Cyprian und meinem Vater getan hat. Aber, Melchior – um ein solches Erbe anzutreten, ist es immer noch früh genug. Ich habe mir mehr als einmal gewünscht, so unwissend wie ihr zu sein.«
Melchior antwortete nichts. Wenzel wich seinem Blick nicht aus. Nach einer ganzen Weile zuckte Melchior mit den Schultern. »Na gut«, sagte er.
»Und das war’s?«, fragte Wenzel.
»Ja, das war’s. Ich denke, du hast damals an einem härteren Brocken zu kauen gehabt als ich jetzt und bist drüber hinweggekommen. Glaubst du, ich lasse mir auch noch sagen, dass ich länger schmolle als ein Mönch, wenn ich mir schon sagen lassen muss, dass er auf einem Pferd eine bessere Figur abgibt?«
Wenzel schluckte einen Kloß hinunter und streckte Melchior die Hand entgegen. »Wieder Freunde?«
Melchior schüttelte sie. »Nie etwas anderes gewesen. Duhättest es mir sagen sollen, aber ich verstehe, warum du es nicht getan hast.«
Sie ritten weiter. Wenzel war erleichtert, dass Melchior so vergleichsweise gelassen reagiert hatte; aber bei jedem Seitenblick, den er ihm zuwarf, erkannte er, dass Melchior nachdenklicher geworden war, als er ihn je zuvor erlebt hatte.
Die Pferde scharrten hungrig an der Schneedecke auf dem Feld neben der Straße. Wenzel rüttelte an dem schief stehenden Pfosten des halb verfallenen Galgens und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. Der Ausblick war eintönig, schwarz und weiß unten, grau oben. Er versuchte, seine Ungeduld zu bezwingen, und sagte sich, dass dies jetzt Feindesland war, fest in der Hand des Königsmarck’schen Heeres. Wenn es daran noch Zweifel gegeben hatte, dann waren sie durch den Anblick des Gehöfts ausgeräumt worden, an dem sie gestern Abend vorbeigekommen waren. Sie hatten um etwas Essen und Wasser und ein Dach über dem Kopf bitten wollen, und vielleicht hätte sogar die Möglichkeit bestanden, die Pferde auszutauschen; von Weitem hatte das Gehöft groß und wohlhabend ausgesehen. Aus der Nähe war zu erkennen gewesen, dass der Wohlstand auch den Soldaten Königsmarcks aufgefallen sein musste. Das Feuer war längst verloschen gewesen, doch es hatte noch nach Rauch gerochen. Der Wind hatte ihnen Asche ins Gesicht geweht. Sie hatten die Stelle gefunden, an der die Soldaten ein oder zwei Stück Vieh geschlachtet haben mussten, und die breite Spur quer durch die Felder, auf der sie den Rest der Tiere fortgetrieben hatten. Sie hatten auch die Familie des Bauern, ihn selbst, seine Knechte und seine Mägde gefunden. Statt zu
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