Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Vorwürfe machen für seine Unkenntnis als einem, der ehrlich seine Unfähigkeit zugab, anstatt sie hinter heiligem Zorn zu verstecken …
Alexandra schlug die Decke zurück.
»O mein Gott!«, sagte sie und versuchte, flach zu atmen.
Die Lider Lýdies flatterten im Schlaf, der eher einem Koma glich, und sie wimmerte. Alles an dem Kind war hager und knochig geworden, selbst das Haar schien dünn und kraftlos. Das Hemd klebte an dem schweißnassen Körper, sodass sich die Rippen durch den feuchten Stoff abzeichneten. Alexandra hatte den Fäkaliengeruch eines an Nervenfieber Erkrankten erwartet, den Geruch, der Mikus und Kryštofs letzte Tage begleitet hatte, aber was von dem ausgemergelten Leib aufstieg, war viel schlimmer. Und ihre Beobachtung, dass Lýdie vollkommen abgemagert war, traf für einen Körperteil nicht zu. Ihr linker Arm war aufgeschwollen bis zum Ellbogen, die Fingerspitzen dunkel verfärbt. Zwischen der faulfarbenen Haut an den Fingerspitzen und dem gesunden Teil der Glieder lagen brandrot entzündete Bänder wunder Haut wiefeurige Ringe. Alexandra hörte ihre Mutter ächzen, als der Geruch bis zur Tür drang, wo sie mit Karina stehen geblieben war.
»Was haben Sie getan?«, flüsterte Alexandra.
Die Schwester starrte sie an.
»Das ist kein Nervenfieber«, sagte Alexandra. »Das ist eine Blutvergiftung.«
»Das ist besser, oder nicht?«, fragte Karina und trat hastig an das Bett.
Alexandra und die Novizin starrten sich noch immer in die Gesichter. Der veränderte Ausdruck, der in die Augen der jungen Klosterschwester trat, bewies Alexandra, dass diese zumindest rudimentäre Kenntnisse in Medizin besaß. Alexandra wandte sich von ihr ab und drehte sich zu Karina um.
»Sag mir, was geschehen ist, Karina. Schnell.«
»Es ist doch besser, oder? Blutvergiftung … das lässt sich doch heilen, nicht wahr? Nervenfieber hingegen … Miku ist an Nervenfieber gestorben, und ich dachte die ganze Zeit über …«
Alexandra war erstaunt, dass der unbeabsichtigte Stich nicht schlimmer schmerzte. »Was ist geschehen?«
Was geschehen war, war dies: Lýdie hatte auf dem Weg von Münster nach Prag plötzlich über Appetitlosigkeit geklagt, hatte sich erbrochen und Durchfall bekommen, und Andreas und Karina hatten die Rückreise unterbrochen und sich ein Logis in Würzburg gesucht. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Kleine geglüht vor Fieber und vor Schmerzen gewimmert. Andreas war überzeugt gewesen, dass Lýdie Nervenfieber bekommen hatte – er hatte die Symptome beim tagelangen Sterben seines Neffen und seines Schwagers beobachtet.
»Wir hatten solche Angst«, stotterte Karina.
»Was haben euch die Schwestern im Spital empfohlen? Einen Aderlass?«
»Das Gesicht des Kindes war rot und geschwollen. Ihr Körper war voller fauler Säfte. Faule Säfte muss man ablaufen lassen«, sagte die Novizin.
»Haben Sie den Aderlass selbst vorgenommen, Schwester?«
»Ja.«
»Wie oft?«
»Mehrere Tage hintereinander. Ich bin eigens vom Spital hierhergekommen, um das Kind nicht der schlechten Luft dort …«
Alexandra hob die Hand. »Und Sie haben sich beeilt.«
Die Schwester ballte die Fäuste. »Was wollen Sie damit … natürlich habe ich mich beeilt! Was ist das für eine Unterstellung? Wer sind Sie überhaupt? Frau Khlesl, im Sinn der kleinen Patientin verlange ich, dass diese Frau …«
»Sie haben sich sehr beeilt!«, sagte Alexandra. Ihre Stimme ließ die Novizin innehalten. »Sie haben sich so beeilt, dass Sie sich nicht die Zeit genommen haben, die Klinge, mit der Sie den Aderlass bei Lýdie vorgenommen haben, über einer Flamme auszubrennen!«
»Was? Natürlich nicht …«
»Wie viele Aderlässe haben Sie mit derselben Klinge an den Tagen durchgeführt, an denen Sie Lýdie geschnitten haben?«
»Was hat das zu …«
»Schwester«, sagte Alexandra, »geben Sie mir die Antworten, die ich haben will, oder ich prügle sie aus Ihnen heraus.«
Die Schwester gaffte sie an. Karina holte entsetzt Luft. Alexandra vermied es, Agnes anzublicken, weil sie ahnte, dass sie in ihren Augen Zustimmung gefunden hätte, und dann hätte sie sich nicht mehr zurückhalten können und die Novizin geohrfeigt.
Gedämpft drang das dritte Glockenläuten von draußen herein; die Christmette begann. In den nächsten Minutenwürde das Paradiesspiel ablaufen, das Andreas mit finanziert hatte. Es konnte sein, dass an seinem Ende Lýdies Seele bereits an dem Ort war, der in der Kirche durch einen Buchsbaum mit daran festgebundenen
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