Die Erbin Der Welt erbin1
dein Gesicht ganz besonders. Du zeigst nicht viele Gefühle — ist das typisch für die Darre oder die Erziehung deiner Mutter? Aber wenn du es tust, dann kann die ganze Welt sie lesen.«
Meine Mutter hatte mich vor langer Zeit genau davor gewarnt. »Si'eh ...« Mir lagen tausend Fragen auf der Zunge, und ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Eine der Kugeln, die ganz grün war und leuchtend weiße Pole hatte, glitt an uns vorbei und überschlug sich. Ich nahm das nicht als etwas Unnormales wahr, bis Si'eh es bemerkte und sich versteifte. In dem Moment schlugen meine Instinkte verspätet ebenfalls Alarm.
Ich drehte mich herum und sah, dass Nahadoth hinter uns stand.
In dem Moment, in dem meine Gedanken und mein Körper erstarrten, hätte er mich überwältigen können. Er war nur einige Schritte entfernt. Aber er bewegte sich nicht und sprach auch nicht, also starrten wir uns nur an. Ein Gesicht wie der Mond, blass und irgendwie unscharf. Ich konnte grob seine Gesichtszüge erkennen, aber nichts davon blieb mir in Erinnerung, außer dem Eindruck von überraschender Schönheit. Sein langes, langes Haar umwehte ihn wie schwarzer Rauch, wobei einzelne Strähnen sich ringelten und wie von selbst bewegten. Sein Umhang — oder vielleicht war auch das sein Haar — bewegte sich, als ob ein nicht fühlbarer Wind wehte. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er zuvor einen Umhang getragen hatte — da auf dem Balkon.
Der Wahnsinn stand ihm immer noch ins Gesicht geschrieben, aber es war ein abgeschwächterer Wahnsinn, nicht mehr die tollwütige Raserei von vorhin. Etwas anderes — ich brachte es nicht fertig, es als Menschlichkeit zu bezeichnen — regte sich unter der Oberfläche.
Si'eh trat vor, achtete aber darauf, sich nicht vor mich zu stellen. »Bist du wieder bei uns, Naha?«
Nahadoth antwortete nicht, er schien Si'eh nicht einmal zu sehen. Si'ehs Spielzeuge, so bemerkte ich mit dem Bruchteil meines Geistes, der nicht erstarrt war, drehten durch, sobald sie in seine Nähe kamen. Ihre langsamen, anmutigen Umlaufbahnen veränderten sich: Einige trieben in verschiedene Richtungen ab, andere verharrten auf der Stelle, wieder andere wurden schneller. Ich beobachtete, wie eins zerbrach und zu Boden fiel. Er machte einen Schritt nach vorne, und noch mehr der bunten Kugeln gerieten außer Kontrolle.
Der eine Schritt genügte, um mich aus meiner Lähmung zu reißen. Ich stolperte rückwärts und wäre schreiend davongerannt, wenn ich gewusst hätte, wie man die Wände öffnete.
»Nicht wegrennen!« Si'ehs Stimme war scharf wie ein Peitschenknall. Ich erstarrte.
Nahadoth machte noch einen Schritt nach vorne und war jetzt nah genug, dass ich sehen konnte, wie ihn ein winziger Schauer durchlief. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er öffnete seinen Mund, mühte sich einen Moment ab und sprach dann. »V-vorhersehbar, Si'eh.« Seine Stimme war tief, aber erschreckend menschlich. Ich hatte ein tierisches Knurren erwartet.
Si'eh zog die Schultern hoch und war wieder ein schmollender kleiner Junge. »Ich hätte nicht gedacht, dass du uns so schnell einholen würdest.« Er legte seinen Kopf schief, betrachtete Naha- doths Gesicht und sprach langsam, wie mit einem Einfaltspinsel. »Du bist hier, oder?«
»Ich kann es sehen«, flüsterte der Lord der Finsternis. Sein Blick war starr auf mein Gesicht gerichtet.
Zu meiner Überraschung nickte Si'eh, als ob er wüsste, was dieses Gefasel zu bedeuten hatte. »Ich habe das auch nicht erwartet«, sagte er sanft. »Aber vielleicht erinnerst du dich jetzt — wir brauchen diese hier. Erinnerst du dich?« Si'eh trat vor und griff nach seiner Hand.
Es war nicht zu erkennen, ob die Hand sich bewegte. Ich beobachtete Nahadoths Gesicht und sah nur, wie blindwütige Mordlust in seinen Gesichtszügen aufflackerte. Dann lag eine seiner Hände um Si'ehs Kehle. Si'eh hatte keine Chance aufzuschreien, bevor er den Boden unter den Füßen verlor und röchelnd und zappelnd in die Luft gehoben wurde.
Einen Atemzug lang war ich zu geschockt, um zu reagieren.
Dann wurde ich wütend.
Ich kochte geradezu vor Wut — und auch Wahnsinn, denn das war die einzige Erklärung für das, was ich danach tat. Ich zog mein Messer und schrie: »Lass ihn in Ruhe!«
Genausogut hätte ein Kaninchen einen Wolf bedrohen können. Aber zu meinem blanken Entsetzen schaute der Lord der Finsternis mich an. Er ließ Si'eh nicht herunter, aber er blinzelte. So schnell war der Wahnsinn von ihm abgefallen und war
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