Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
freundlich sein wollen und wäre ehrlich betroffen von seinem Versagen. Sein Teint war so hell, dass sie nicht gedacht hätte, er sei überhaupt imstande zu brüten. Seine Augen hatten das schier Unvorstellbare geschafft – diese blassen, besorgten Augen, die durch die Gläser seiner Brille leicht verschleiert wurden.
„Wir brauchen einen neuen Reservetrick.“ Emily rieb sich das Kinn.
Allerdings. Jane würde sich nicht sicher fühlen, bis Marshall nicht mit den anderen über sie lachte. Es tat ihr fast leid, ihn niederzuringen. Er war wirklich nett gewesen.
Aber sie hatte ihm keinen Grund gegeben, nett zu ihr zu sein. Keinen Grund außer den hunderttausend Gründen, die alle Männer hatten, und das machte ihn letztendlich ganz und gar nicht nett. Sie schüttelte den Kopf, verbannte alle Gedanken an Männer mit hellem Haar und freundlichen Augen, und wandte sich wieder ihrer Schwester zu.
„Ich habe etwas für dich.“ Sie ging zu ihrem Umhang, den sie achtlos abgelegt hatte, und begann die Taschen zu durchsuchen, bis sie das Geschenk fand.
„Oh!“ Emily setzte sich aufrechter hin. „Oh, seit dem Letzen ist eine Ewigkeit vergangen.“
„Ich habe das hier heute Nachmittag gefunden. Titus hat gesagt, du solltest während deines Mittagsschläfchens nicht gestört werden, daher …“
Sie reichte ihr den Band.
Emilys Gesicht leuchtete auf, und sie streckte voller Eifer die Hand aus, nahm das Buch mit einem ehrfürchtigen Seufzer. „Danke, danke, danke. Ich werde dich ewig lieben.“ Sie strich mit einer Hand über die Vorderseite. „Ich hoffe, Mrs. Blickstall hat deswegen nicht zu viel Ärger gemacht?“
Jane winkte ab. Sie hatte eine Abmachung mit ihrer Anstandsdame. Ihr Onkel hatte Mrs. Blickstall als Janes Begleiterin ausgewählt, aber es war Janes Vermögen, aus dem ihr Gehalt gezahlt wurde. Solange Jane die vierteljährlichen Zuwendungen an die Frau aufstockte, war Mrs. Blickstall willens, die Berichte, die sie ihrem Onkel lieferte, anzupassen … und von Zeit zu Zeit über ein paar Schmuggelwaren hinwegzusehen.
Schmuggelgut wie Romane. In Emilys Fall Schundromane.
„‚Mrs. Larriger und die Bewohner von Viktorialand‘“, sagte Jane. „Jetzt mal ehrlich, Emily. Wo liegt denn Viktorialand?“
Ein verträumter Ausdruck trat in die Augen ihrer Schwester, und sie umklammerte das Buch fester. „Es ist ein Land aus Eis und Schnee am Südpol. Am Ende des letzten Bandes – das Buch, in dem Mrs. Larriger von portugiesischen Walfängern entführt und gegen Lösegeld gefangen gehalten wurde – hat sie sie dazu überredet, sie laufen zu lassen. Der Walfängerkapitän hat sie aus Verärgerung darüber an der eisigen Küste von Viktorialand ausgesetzt.“
„Verstehe“, erwiderte Jane zweifelnd.
„Ich musste zwei ganze Monate darauf warten, herauszufinden, was mit ihr passiert ist.“
Jane schüttelte nur den Kopf. „Ich wusste gar nicht, dass Viktorialand überhaupt Bewohner hat. Ich dachte immer, ein Land ohne Ackerboden sei eine eher ungeeignete Umgebung, um menschliches Leben zu ermöglichen.“
„Es gibt dort Pinguine und Seelöwen und wer weiß noch was. Wir reden hier von Mrs. Larriger . Sie ist in Russland der Hinrichtung entkommen, nachdem sie bewiesen hatte, dass sie am Tod des Lieblingswolfshundes des Zaren unschuldig war. Sie hat ganz allein einen Aufstand in Indien niedergeschlagen und hat die Pläne der vereinten Armeen von Japan und China vereitelt und ist dann erst den Walfängern in die Hände gefallen.“
„All diese Regierungen auf der ganzen Welt“, überlegte Jane halblaut. „Sie alle wollen dieselbe Frau hinrichten. Die können sich doch sicher nicht alle irren, oder?“
Emily lachte. „Du magst sie nur deshalb nicht, weil sie so ist wie du.“
„Ach, ich bin also wie eine achtundfünfzigjährige Frau?“ Jane stemmte sich in gespielter Entrüstung eine Hand in die Hüfte.
„Nein“, antwortete Emily nicht im Geringsten eingeschüchtert. „Aber du bist herrschsüchtig und streitlustig.“
„Bin ich nicht.“
„Mhm.“ Emily hob das Buch an die Nase, um an den frisch geschnittenen Seiten zu riechen. Während sie das tat, rutschte der Ärmel ihres Nachthemds bis zu ihrem Ellbogen, sodass zwei runde blässlich schimmernde Narben zu sehen waren.
„Ob nun herrschsüchtig oder nicht, das Buch ist jedenfalls Schund“, erwiderte Jane. Aber ihre Kehle fühlte sich ganz eng an, und ihre Finger krümmten sich zu einer festen Faust. Sie glaubte nicht, dass sie Titus
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