Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
nicht gehen lassen.
„Wo ist sie?“
„In London“, antwortete Jane. „Dessen bin ich mir fast sicher.“
„Wie … praktisch“, erwiderte Oliver. „Ich muss ebenfalls nach London.“
Aber er hatte gehofft, sie müssten woanders hin. In der Hauptstadt warteten Verpflichtungen auf ihn. Er schloss die Augen und stellte sich diese Verpflichtungen vor – die entfallenen Termine, die Zeitungskolumne, die er über die letzten angekündigten Veränderungen des Gesetzes verfassen sollte –, aber dann schob er sie beiseite. „Aber wir sind noch nicht da“, sagte er. „Wir sind hier. Jetzt.“
„Das ist mir nicht entgangen“, flüsterte sie. „Was sollten wir deswegen unternehmen?“
Er zog sie dichter an sich. „Das“, sagte er. Damit drehte er ihr Gesicht zu sich und küsste sie.
„I CH WEIß NICHT , Anjan.“
Die Frau, die Emily am Tisch gegenübersaß, war in einen Sari aus lila- und goldfarbener Seide gehüllt. Sie hatte Anjans Augen, dunkel und von unvorstellbar langen Wimpern gesäumt. Mrs. Bhattacharyas Gesicht hatte keinerlei Falten bis auf die zwischen ihren Brauen, wenn sie Emily ansah. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und Emily gab sich Mühe, unter ihrer Musterung nicht unruhig hin und her zu rutschen.
Anjans Mutter atmete scharf ein und schaute ihren Sohn an. „Ist etwas nicht in Ordnung mit ihr? Sie wirkt kränklich.“
„Sie war einige Zeit nicht an der frischen Lust.“ Anjan war die Ruhe selbst.
Ein Gefühl, das Emily nicht teilte. Ihr Magen zog sich nervös zusammen, und sie musste alle Mühe aufbringen, still sitzen zu bleiben.
Mrs. Bhattacharya schüttelte nur den Kopf. „Und was wird dein Vater sagen, wenn ich ihm berichte, dass deine Braut Anfälle hat? Wir wollen doch nur das Beste für dich.“ Sie schaute Emily finster an. „Könntest du nicht ein anderes Mädchen finden? Ein nettes Mädchen von zu Hause vielleicht …“
„Ich denke schon, dass das möglich wäre“, erwiderte Anjan höflich. „Aber Miss Emilys Vater war Anwalt, und ihr Onkel ist Juratutor. Sie kann mich anderen wichtigen Leuten vorstellen als nur Liringtons Eltern. In der Hinsicht ist es eine äußerst erstrebenswerte Verbindung.“
Mrs. Bhattacharya kniff die Augen zusammen. „Natürlich versuchst du mich damit zu überzeugen. Du bist ja nur vernünftig .“ In ihrem Tonfall lag ein Anflug von Belustigung, während sie sprach. „Es ist nicht wichtig, dass sie hübsch ist. Du hast mir auch nicht geschrieben, dass du mit ihr über alles reden kannst. Damit hat es rein gar nichts zu tun, nicht wahr?“
Um Anjans Lippen zuckte es, sie verzogen sich zu einem echten Lächeln. „Natürlich“, sagte er mit leiser Selbstironie. „Was könnte günstiger sein.“
Sie warf ihm einen beredten Blick zu. „Ich bin nicht dumm, Anjan.“
„Du kennst mich zu gut. Aber ich habe dir ja bereits erzählt, ich bin in sie verliebt. Wenn ich irgendwann Einfluss in England gewinnen will, dann brauche ich jemanden, der die Leute hier versteht. Jemanden, der das tut, aber auch nicht will, dass ich vergesse, wer ich bin.“
„Vergessen?“
„Praktisch jeder hier in England isst Fleisch und trinkt Alkohol“, warf Emily ein. „Stellen Sie sich vor, Ihr Sohn geht zu einer Veranstaltung, wo man ihm einen Braten vorsetzt. Wer, glauben Sie, könnte vorher mit dem Gastgeber reden, damit das nicht passiert? Wer würde dafür sorgen, dass in seinem Glas Limonade ist statt Weißwein. Sich um solche Sachen zu kümmern ist die Aufgabe einer Ehefrau.“ Sie schaute zu Anjan. „Ich glaube nicht, dass Ihr Sohn je seine Herkunft vergessen würde, aber ich könnte helfen, ihm den Weg zu ebnen.“
Mrs. Bhattacharya runzelte die Stirn, während sie das bedachte.
„Und natürlich werden wir einen indischen Koch einstellen.“
„Hm.“ Anjans Mutter wirkte leicht besänftigt. Aber als sie merkte, dass ihre Miene nachgiebiger wurde, starrte sie Emily mit neuerlicher Eindringlichkeit an. „Essen ist Essen. Und Indien? Wollen Sie, dass er Indien vergisst? Dass er nie mehr nach Hause kommt, seine Kinder nie erfahren, woher sie stammen?“
„Nein“, antwortete ihr Emily. „Natürlich nicht. Wir werden so oft wie möglich zu Besuch kommen.“
„Verstehe. Wer ist dieses Mädchen, Anjan, das alles will, was du auch willst? Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr glaube.“
„Aber ich will nicht all das, was Anjan will“, widersprach Emily. „Er hat mir erklärt, wie es funktioniert. Ich will alles, was Sie
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