Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
nach dir mit deinem vollen Nachnamen erkundigt.“
„Sag bitte, dass es nicht meine Mutter ist.“ Die war vor ein paar Wochen in London eingetroffen, und obwohl er ihr sehr freundlich, sehr höflich auseinandergesetzt hatte, dass sie ihn nicht bei seiner Arbeit besuchen konnte … Nun, sie war seine Mutter.
„Nein, ich habe ja bereits gesagt, es ist eine Dame.“ Er sah Anjan erneut an. „Ich wusste gar nicht, dass du Damen kennst, Batty. Du hast mir das vorenthalten.“
Anjan war nicht bewusst, dass er irgendjemanden kannte, der ihn hier aufsuchen könnte. Daher sammelte er nur achselzuckend seine Sachen zusammen und folgte seinem Freund. Sie gingen durch den Aktenraum, dann in die vorderen Kanzleizimmer. Der Raum, der dem Eingang am nächsten lag, wurde für Gespräche mit Klienten genutzt. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Lirington trat ein und nickte jemandem drinnen zu, als Anjan auch schon hinter ihm hineinkam.
Er blieb jäh auf der Türschwelle stehen.
Emily – Miss Emily Fairfield – stand am Fenster.
Sie hatte schon immer hinreißend ausgesehen, aber jetzt nahm sie ihm den Atem. Ihr Haar schimmerte golden im Tageslicht, das durch die Scheiben fiel. Sie trug ein blaues Musselinkleid, das sich deutlich von den einfachen Tageskleidern unterschied, in denen er sie sonst immer gesehen hatte. Die hatten weite Ärmel und lockere Taillen gehabt, dieses Kleidungsstück aber – das hier umschloss ihren weiblichen Körper eng und saß wie angegossen. Er und Lirington blieben gemeinsam an der Tür stehen und seufzten gleichzeitig bewundernd.
Anjan wusste nicht, was er denken sollte. Sie war nach all diesen Monaten hier. Was konnte das bedeuten?
Lirington erholte sich zuerst – vielleicht weil er Emily nicht kannte, vermutete Anjan.
„Miss Fairfield“, sagte er. „Hier habe ich Ihnen Batty gebracht, wie Sie es wünschten.“ Er ging zu einem Stuhl und zog ihn für sie heraus. „Bitte nehmen Sie doch Platz“, forderte er sie auf, „und lassen Sie uns wissen, wie wir Ihnen behilflich sein können.“
Sie schwebte zum Tisch, strich sich mit den Händen die Röcke glatt und ließ sich anmutig auf dem Stuhl nieder. Anjan schluckte schwer.
„Batty“, sagte Lirington über die Schulter zu ihm, „hol doch bitte Tee.“
Sie runzelte die Stirn, und ein Schatten legte sich über ihre Züge.
Als Anjan mit einem Tablett zurückkehrte, saß sie elegant da, wirkte so natürlich, als ob sie jeden Tag in Kanzleiräumen Tee tränke.
„Wie Sie sicher wissen, Miss Fairfield“, sagte Lirington gerade, „hoffe ich, dass wir einen Weg finden können, Ihnen behilflich zu sein, aber ich fürchte, das wird schwierig sein. Sie werden sich zuerst einen Rechtsbeistand suchen müssen, wobei ich Ihnen da einige fähige Leute nennen kann. Unser Spezialgebiet ist allerdings Seerecht. Wenn Sie uns kurz darlegen wollen, was Ihnen Sorgen …“
„Wenn Sie mir nicht helfen können, bin ich sicher, dass Sie mir jemanden empfehlen können, der das kann. Ich hatte gehofft, dass Sie sich meine Geschichte anhören.“
„Natürlich“, erwiderte Lirington glatt.
Sie hatte kurz zu Anjan gesehen, als er ins Zimmer zurückgekehrt war – ein kühler, fragender Blick. Aber sie faltete die Hände und betrachtete sie, ohne noch einmal in seine Richtung zu schauen.
„Mein Onkel ist mein Vormund“, sagte sie schließlich. „Ich habe ein medizinisches Problem, eines, das Dr. Russell hier aus London Krampfanfälle nennt.“ Ihre Finger spielten mit dem Knopf an ihrer Manschette. „Es gibt keine Therapie dafür, wenigstens hat man bislang keine entdeckt.“ Sie zuckte die Achseln. „Es ist natürlich lästig, aber es ist vollkommen ungefährlich.“
Anjan nickte, erinnerte sich an das, was er gesehen hatte.
„Mein Onkel“, fuhr sie fort, „will unbedingt ein Heilmittel finden. Er glaubt, kein Mann wollte mich heiraten, solange ich das Leiden habe.“
Nachdem sie das gesagt hatte, begann sie ihre Manschette aufzuknöpfen.
„Also“, setzte Lirington an. Aber er sprach nicht weiter, starrte auf die blasse Haut an ihrem Handgelenk, war vollkommen gebannt von dem Anblick und beugte sich vor. Anjan hätte seinen Freund am liebsten zurückgerissen, damit er ihre Haut nicht länger ansah.
„Er hat mir galvanische Stromschläge versetzen lassen“, erklärte sie und öffnete den zweiten Knopf. „Er hat einen Mann meinen Kopf in kaltes Wasser tauchen lassen. Dann war da der Mann mit dem Apparat, der durch Hebelwirkung
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