Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
anderen Seite des Tisches, „bitte setzen Sie sich nicht hierhin.“
Emily schaute auf und merkte erst da, dass sie nicht allein am Tisch war. Ein Mann saß ihr gegenüber, dicht vor der Wand. Ein aufgeschlagenes Buch lag vor ihm, und neben einer leeren Suppentasse sah sie ein Stück Brot.
Ihr Bein begann zu zucken.
„Es tut mir leid“, erwiderte sie und biss die Zähne zusammen. „Ich kann jetzt leider auf keinen Fall aufstehen.“
Sein Akzent war beinahe zu perfekt, zu bemüht. Seine Kleider waren so englisch wie Tee und Kekse. Seine blaue Krawatte hatte er schlicht in einem formellen Stil gebunden, sie mit einer Goldnadel befestigt, und auf dem Tisch hatte er seinen überaus ordentlichen Hut abgelegt. Die weiße Makellosigkeit seiner Manschetten, die unter den Ärmeln hervorlugten, stach von dem Dunkelbraun seiner Haut ab.
Sie blickte ihm in die Augen – fast schwarz – mit den dichten, langen Wimpern. Seine Lippen hatte er zusammengepresst – fast, als sei er verärgert.
„Miss …“ Er atmete zischend aus und breitete die Hände flach auf den Tisch.
Er war Inder. Sie hatte schon zuvor indische Studenten gesehen. Dutzende von ihnen besuchten Cambridge. Wie alle Männer in Cambridge hatte sie sie nur aus der Entfernung aus dem Fenster einer Kutsche oder über eine Rasenfläche hinweg wahrgenommen. Sie bezweifelte, dass ihr Onkel sie in ihre Nähe gelassen hätte. Es hätte ja etwas passieren können.
Er schaute sie mit mehr Argwohn an, als irgendein Cambridge-Student einer jungen englischen Dame gegenüber hegen durfte. Vielleicht würde er sie nicht verraten.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich wieder. „Ich möchte keine Grimassen schneiden. Ich bekomme gleich einen Anfall. In ein paar Minuten ist er vorbei.“
Er runzelte die Stirn, aber es war keine Zeit für mehr Erklärungen.
Emily hatte nicht wirklich Anfälle. Wenigstens hatte das Dr. Russell aus London gesagt. Es war nicht echte Epilepsie, hatte er erklärt, weil sie nie das Bewusstsein verlor. Sie war stets anwesend, sie konnte sogar sprechen und ihre Glieder bewegen. Jetzt kam der Anfall über sie, so vertraut wie ein alter Handschuh.
Sie hatte sich dabei schon im Spiegel beobachtet. Vor allem ihr rechtes Bein zuckte. Aber das war nicht die einzige Manifestation. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Gesicht verzerrte sich. Auch ihr Herz klopfte schneller – schwere, rasch aufeinander folgende, unregelmäßige Schläge wie ein dreibeiniges Pferd, das zu galoppieren versuchte.
Ihr Tischnachbar starrte sie ein paar Augenblicke lang verblüfft an. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“
Sie biss die Zähne zusammen. „Verraten Sie niemandem, was gerade geschieht.“
Er machte ein Geräusch, das man als Zustimmung werten konnte.
Manchmal wünschte Emily sich, dass sie während der Anfälle nicht bei Bewusstsein bleiben würde. So war sie sich die ganze Zeit über bewusst, wie sie aussah, was andere über sie denken mussten. Sie wünschte, sie könnte ins Nichts verschwinden und ohne schreckliche Erinnerungen zurückkehren. Wenn sie das Bewusstsein verlieren würde, hatte ihr ein Arzt gesagt, wüssten sie mit Sicherheit, dass es Epilepsie sei. Wie die Dinge aber lagen, war sie ein Sonderfall, der nirgends richtig hinpasste. Es gab keine bekannte Behandlung. Keine anderen Fälle wie sie, die bereits geklärt waren.
Sie konzentrierte sich auf die Maserung der hölzernen Tischplatte vor ihr, statt darüber nachzudenken, was mit ihr geschah. Jemand hatte Initialen in eine Ecke geritzt. Sie klammerte sich an diese Buchstaben – A+M – und wiederholte sie im Geiste wieder und wieder, bis die Zuckungen nachließen und schließlich der Erschöpfung überbeanspruchter Muskeln wichen.
Es hatte zwanzig Sekunden gedauert. Solch eine kurze Zeitspanne, um ihr solchen Ärger zu bereiten.
Sie atmete auf.
„Miss“, ertönte eine Stimme hinter ihr. „Geht es Ihnen gut? Belästigt dieser Mann Sie?“
Sie drehte sich um und sah eine vollbusige Frau, ein Handtuch in den Schürzenbändern.
„Falls er Ihnen Ärger macht, werde ich meinen Ehemann …“
„Nein“, beeilte sich Emily zu sagen, so hastig, dass ihre Stimme ein wenig quietschte. „Überhaupt nicht. Mir war schwindelig, und ich musste mich setzen. Er war überaus zuvorkommend. Sehr, sehr zuvorkommend.“
„Hat er sich Ihnen aufgedrängt?“
„Ganz im Gegenteil“, erwiderte Emily. „Ich fürchte, ich habe mich an seinen Tisch gesetzt, ohne ihn zuvor um
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