Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
ertastete.
Die Haushälterin bewegte sich nicht von der Stelle. „Die Bewegung hat schöne Farbe in Ihre Wangen gebracht.“
Ha. Schweißperlen standen Jane auf der Stirn. Sie konnte sie mit einem leichten Kitzeln über eine Wange rinnen spüren. Sie benötigte keinen Spiegel, um zu wissen, dass ihr Gesicht ziegelrot war.
„Dann gehe ich rasch nach meiner Schwester sehen“, sagte sie betont unbekümmert.
Mrs. Blickstall bog gerade erst schweratmend in die Straße ein.
„Ja“, sagte Jane. „Ich werde mit Emily reden. So, wie ich das immer tue, wenn ich nach Hause komme.“ In vollem Lauf, wie ich das immer tue. Sie kniff die Lippen zusammen. Halt den Mund, Jane.
Die Haushälterin schenkte ihr einen bedauernden Blick – einen, der sagte: „Wirklich, Miss Fairfield, sparen Sie sich die Lügen. Wir wissen alle, wie die Sache funktioniert.“
Jane seufzte und steckte ihr eine Münze zu. Sie verschwand augenblicklich.
„Sie ist im östlichen Salon mit Alice und Dr. Fallon. Ich sorge dafür, dass Sie nicht gestört werden.“
Jane nickte und eilte mit grimmiger Miene den Flur entlang.
Sie fand ihre Schwester an einem Tisch sitzend. Einen Ärmel hatte sie hochgerollt. Der entblößte Arm war an den Tisch gebunden, sodass die blasse Haut ihrer Narben zu sehen war.
Weiße Mullstreifen waren um ihr Handgelenk und den Unterarm gewickelt, um Metallplatten zu fixieren. An diesen Platten waren Drähte befestigt, die wiederum mit einer Art Apparat verbunden waren. Jane hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Eine Ansammlung von böse aussehenden Glasgefäßen, denen ein unangenehmer Geruch entstieg. Galvanik. Elektrische Batterien.
Aber wenigstens wirkte Emily eher gelangweilt als von Schmerzen gequält. Beim Anblick ihrer Schwester hellte sich ihre Miene auf.
„Jane!“
„Was ist das alles?“, fragte Jane.
„Wir warten darauf, dass ein Anfall kommt.“ Emily verdrehte die Augen.
„Miss Emily“, sagte der Mann, der nahe dem Fenster stand. „Ich glaube, ich habe es Ihnen schon einmal erklärt. Sie dürfen sich nicht bewegen. Wenn Sie mit Ihrem Bein so wippen, lockern Sie durch die Erschütterung die Kontakte, am Ende lösen sie sich sogar. Und wenn sie zum falschen Zeitpunkt nicht verbunden sind, kann ich den Kreis nicht schließen.“
Emily sandte Jane einen sprechenden Blick, zog die Brauen übertrieben hoch und presste die Lippen zusammen. Dann sagte sie: „Natürlich. Das ist Dr. Fallon, Jane. Er ist heute Morgen schon fleißig bei der Arbeit.“
Dr. Fallon war ein schlanker Mann von vielleicht vierzig Jahren. Sein kastanienbraunes Haar wies noch kein Grau auf. Er hatte einen gezwirbelten Schnurrbart und buschige braune Koteletten.
Jane ging zu ihm. „Ich bin Miss Jane Fairfield, Emilys Schwester. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihre Methode zu erläutern?“
Er runzelte verwundert die Stirn. „Aber ich habe Mr. Fairfield doch bereits alles dargelegt.“
„Ich interessiere mich sehr für den medizinischen Fortschritt.“ Damit setzte sie sich auf einen Stuhl neben ihrer Schwester. „Ich würde gerne mehr über Ihre Vorgehensweise hören.“ Sie verzog den Mund und hoffte, es ginge als Lächeln durch.
Er schien einen Moment verwirrt, dann aber lächelte auch er. „Ich bin Galvaniker“, sagte er ernst. „Was heißt, dass ich galvanische Medizin praktiziere. Ich habe entdeckt, dass es eine Reihe von Wirkungen haben kann, wenn Strom durch den menschlichen Körper fließt, so beispielsweise Taubheit, Schmerz, Krämpfe …“
Er schaute Emily an, die ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammenpresste.
„Ah“, sprach er weiter, „und ich habe auch einige nützliche Effekte entdeckt. Zum Beispiel kann die Anwendung von Galvanik Simulanten von ihrem Leiden befreien.“
Oh, daran zweifelte Jane nicht. Einem Patienten, der so tat, als sei er krank, einen elektrischen Schock zu versetzen, wäre sicherlich äußerst wirkungsvoll. Es würde vermutlich auch leichtere Krankheiten „heilen“.
„Wie wunderbar“, erwiderte Jane. „Gute Arbeit, dass Sie das herausgefunden haben.“
Er lächelte verunsichert.
„Ich bin sicher“, fuhr Jane fort, „dass es in keiner Weise schwierig ist, es mit Ihrem Eid als Arzt in Einklang zu bringen, Ihren Patienten – wie nannten Sie es noch? – galvanischen Strom zu verabreichen.“
Er wurde rot. „Ah, nun, wissen Sie. In meinem Fall ist Doktor eher ein Ehrentitel.“ Seine Miene hellte sich auf. „Einer, der mir von Dutzenden dankbarer
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