Die Erbsünde
bestätigte, daß das Gespräch registriert war. Wie beim Gehirn, dachte er. Grays Anatomielehre, Seite eintausendsowieso, eine Zeichnung zeigte die Gänge, ein zartes Liniengewirr wie die Verästelung stilisierter Bäume. Wenn bei der Prüfung das Nervensystem drankam, saß er in der Klemme. Bernsteins Vorlesungen waren so langweilig, daß er des öfteren geschwänzt hatte.
Verdammtes Telefon. Ging denn keiner dran? Es knackte, und dann hörte er ihre fragende Stimme: »Hallo?«
Er hatte die Münze in der Hand und fummelte unschlüssig damit herum. Er ließ sie in den Schlitz fallen. »Hallo, Trish«, sagte er eifrig.
»Ach, du bist's«, sagte sie tonlos.
Er wußte alles. Ihm wurde flau, er zwang sich, ruhig zu bleiben, seine Angst nicht zu verraten. »Wie geht's?« fragte er gewollt unbeschwert und munter.
»Gut«, sagte sie teilnahmslos.
Er wurde wütend. Sie hätte wenigstens den guten Willen zeigen können. Aber sie hatte ja gesagt: »Gut.« Vielleicht hatte er sie nicht richtig verstanden. Vielleicht hatte sie wirklich ›gut‹ gemeint. Alles ist gut. Man braucht sich keine Sorgen mehr zu machen. Vielleicht konnte sie nicht frei sprechen.
»Hör mal. Ist da noch jemand im Zimmer?«
»Im Zimmer?« Sie schien überrascht. »Nein, meine Mutter ist fortgegangen. Ich bin allein.«
»Ach so.« Er wußte alles, aber er mußte weitermachen, weitermachen bis zum letzten, bis zum allerletzten Schluß. »Und …« Er wußte nicht, wie er es in Worte kleiden sollte. »Gibt es was Neues?«
»Neues?«
War sie blöd? Oder tat sie absichtlich begriffsstutzig?
»Du weißt doch. Ist etwas geschehen?«
»Ach so.« Sie hielt inne. Das Blut pochte ihm in der Halsader. »Nein«, sagte sie.
»Aha.«
Sie schwiegen beide. Er hielt den Hörer etwas vom Ohr weg, er klebte an der feuchten Haut. Deon war in der erstickenden Enge der Telefonzelle ins Schwitzen geraten. Der Hörer machte ein Geräusch wie die ferne Brandung, die man hört, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält.
»Hallo?« sagte Trish wieder, mit dem fragenden Unterton.
»Es wird schon kommen«, sagte er in den Hörer, fast barsch, so als müsse er nur fest genug auftreten, und das Ersehnte werde sich schon einstellen.
»Wenn du meinst.« Sie wollte gelassen scheinen, aber an ihrer Stimme merkte er, daß sie wieder geweint hatte. Herrgott noch mal.
»Es wird schon kommen. Du wirst sehen.«
»Ja. Vielleicht.«
Er hatte es jetzt eilig, das Gespräch zu beenden. »Du, ich muß jetzt gehen.«
»Heute Abend also?«
»Nein, ich kann nicht … Ich …« Er suchte schnell nach einer Ausrede. »Heute Abend wird es wieder sehr spät. Ich habe noch mit Robby zu arbeiten.«
»Dann nicht.«
»Vielleicht morgen«, schlug er in einem plötzlichen Aufwallen von Mitleid und Zuneigung vor, und (wie er zugeben mußte) von Verlangen. »Vielleicht können wir etwas für morgen abend arrangieren. Ich ruf dich an.«
»Du weißt ja, wo ich bin«, lachte sie tapfer, aber er verstand den versteckten Vorwurf.
»Schön«, sagte er. Er schämte sich seiner Gemeinheit, aber es war ihm jetzt egal. Er wollte das Gespräch beenden. »Also, bis dann. Tschüß.«
Einen Moment lang fühlte er sich frei und unbeschwert. Aber sofort legten sich bleiern Schuld und Verantwortung auf seine Schultern. Er ließ die Tür der Telefonzelle hinter sich zufallen und ging langsam, mit in den Taschen vergrabenen Händen und gefurchter Stirn, durch die Sonne. Er mußte an seinen Vater denken. Etwas hatte ihn an seinen Vater erinnert, ein flüchtiges Aufblitzen, wie das Sonnenlicht auf den vorbeiflitzenden Autos. Muscheln. Es hatte mit Muscheln zu tun. Das war's. Jetzt fiel ihm alles wieder ein.
Es war an einem Sommermorgen in den langen Sommerferien seines zweiten Studienjahres. Er hatte geduscht und sich zum Tennis umgezogen. Er wollte ein paar Brote mit kaltem Hammelfleisch zum Lunch richten und den Nachmittag bei Versters verbringen, die einen Tennisplatz und hübsche Zwillingstöchter hatten. Da kam sein Vater über die breite kühle Veranda herein. Beim Anblick des weißen Hemdes, der sorgfältig gebügelten Shorts, der weißen Socken und frischgeweißten Tennisschuhe zogen sich seine Mundwinkel leicht nach unten.
»Sehr flott siehst du aus«, sagte er ironisch.
Deon wurde rot. Seit dem Anfang der Ferien hatte etwas zwischen ihnen in der Luft gelegen, eine Spannung, die nur eines Funkens bedurfte, um sich zu entladen. »Ich wollte Tennis spielen gehen«, sagte er.
»Das sehe ich«,
Weitere Kostenlose Bücher