Die Erbsünde
Traubensarkom genannt.
Mary-Janes Ankunft im Krankenhaus brachte einigen Wirbel mit sich, denn ihr Vater hatte im letzten Moment veranlasst, das Kind im Hubschrauber von Durban zum Kap zu transportieren, um keine Zeit zu verlieren. Ein Reporter hatte Bruchstücke der Geschichte aufgeschnappt, und sie nach eigenem Gutdünken ausgeschmückt, und ein Redakteur mit sehr eigenen Vorstellungen des Wortes ›Tumor‹ hatte dann noch die restliche Verwirrung gestiftet. Die Schlagzeile lautete entsprechend: »Luftrettung für hirngeschädigtes Kind.«
Deon hatte gerade Stationsdienst, als das kleine Mädchen eingeliefert wurde, und Bill du Toit nahm die Krankengeschichte auf. Deon fiel die Rolle des interessierten Beobachters zu, während der Oberarzt sich seine Notizen machte.
Mary-Jane saß aufrecht in ihrem Bettchen. Die Reise mit all ihren Aufregungen hatte sie erschöpft, aber ihre Augen glänzten vor Freude über all das Neue, das sie gesehen und erlebt hatte.
Der Herrgott steh uns bei, dachte Deon, als er sich vorstellte, was sie mit ihr vorhatten.
Die Eltern standen am Fußende des Bettes und beantworteten die Fragen, die Bill du Toit ihnen stellte. Die Mutter gab bereitwillig und selbstbewusst Auskunft; man merkte ihr an, daß sie dieselben Fragen schon oft beantwortet hatte. Der Vater warf nur hin und wieder eine schroffe Bemerkung ein. Einmal trafen seine Augen die Deons, aber sein Blick glitt zur Seite wie eine Schlange, die im dichten Gebüsch verschwindet und sich dort lauernd versteckt hält.
Deon empfand einen dumpfen Zorn gegen den Mann; er hätte ihn packen und schütteln mögen. Hab dich doch nicht so, wollte er ihm sagen, du tust, als hätte das Schicksal eigens dich als Opfer erwählt. Es ist schrecklich, aber so ist nun einmal das Leben.
Wie ein Peitschenhieb durchzuckte ihn plötzlich die Erinnerung. In seinem vierten Studienjahr hatte ihnen ein Dozent – Narks war sein Name – den Knochenmarkabstrich von einem Jungen gezeigt. Dr. Narks hatte vom Mikroskop aufgeblickt und mit einem schmerzlichen Lächeln gefragt: »Was glauben Sie, meine Herren Doktoren, was das ist?« Er nannte die Medizinstudenten immer so, in der Hoffnung, daß eine vorzeitige Promotion sie anspornen würde. Die großen Zellen mit den blauen, dunkelgefärbten Nukleolen sagten keinem von ihnen etwas, und schließlich flüsterte Narks, als wage er nicht, die Diagnose laut auszusprechen: »Akute Leukämie.«
Sie waren auch dabei, als er es den Eltern sagte. Die Mutter trat ihm entgegen wie eine Furie und schrie ihn mit Hasserfüllten Augen an: »Sie irren sich! Sie verwechseln ihn mit jemand anders. Mein Arzt sagt, es ist nur eine Leberentzündung.« Narks ging mit unendlicher Geduld auf die Frau ein, aber sie stürmte laut schimpfend an ihm vorbei aus dem Krankenhaus, ohne ihn anzuhören.
»Die ist aber hysterisch!« sagte einer von den Studenten blasiert.
Dr. Narks wurde zum ersten Mal ausfallend: »Das, Sie Idiot, ist die Mutter eines sterbenden Kindes!«
Jetzt hatte Deon die scharfe Zurechtweisung wieder in den Ohren. Er vermied es, Mr. Fowlers Blick noch einmal zu begegnen.
Bei der Abendvisite begrüßte Professor Snyman Mary-Jane. Er lächelte ihr zu und nahm die Mappe mit den Untersuchungsergebnissen zur Hand. »Hallo, Kleines.«
»Hallo«, sagte sie zutraulich. Sie hatte sich an die Krankenhausatmosphäre gewöhnt, seit sie vor zweieinhalb Monaten zum ersten Mal zur Biopsie in Durban war. Zur Freude aller, und zur Überraschung mancher, hatte diese keine Anzeichen von Bösartigkeit gezeigt. Aber der Gynäkologe war mißtrauisch gewesen. Die Geschwulst ließ sich so leicht nicht erklären. War er bei der Biopsie tief genug gegangen?
Bei einer zweiten Probeexzision fand man Kugelzellen, Sternzellen, Spindelzellen, gestreifte Muskelzellen und mesenchymale Zellen. Damit war Mary-Janes Schicksal besiegelt.
Professor Snyman lächelte das Kind fest an, dann blätterte er rasch den Bericht durch, winkte Bill du Toit heran und ging ihm mit schnellen, nervösen Schritten voraus. Der Oberarzt eilte ihm beflissen nach. Deon spitzte die Ohren und fing ein paar Satzfetzen auf. »… die einzige Möglichkeit …«, hörte er Professor Snyman sagen, »… mir bleibt nichts anderes übrig …« Und schon waren sie außer Hörweite.
Am vergangenen Abend hatte Deon sich intensiv mit der einschlägigen Literatur beschäftigt. Allein in seinem Zimmer im Assistentenbungalow, hatte er lustlos in einem Wälzer über
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