Die Erbsünde
Kinderchirurgie geblättert. Das allgemeine Interesse an dem Tumor, der sich in Mary-Janes kleinem Körper ausbreitete, deprimierte ihn. Neulich hatte ihn einer der älteren Assistenzärzte im Gang angesprochen: »Sie sind doch auf der Kinderstation, nicht? Haben Sie das Traubensarkom gesehen? Das wird eine phantastische Operation.«
Herrgott im Himmel! Phantastisch!
Deon wich aus, um einer Hilfsschwester Platz zu machen, die mit dem Instrumentenwagen vorbeikam. Er lehnte sich gegen die Wand am Kopfende des Operationstisches; hier stand er niemandem im Weg und konnte auch am besten sehen. Heute war er nur Zuschauer, einer von vielen, denn die Kunde von Professor Snymans Vorhaben hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Deon hatte die kleine Mary-Jane heute Morgen in friedlich dösendem Zustand von der Station gebracht.
Snyman fing an zu schneiden. Sicher und elegant gingen ihm die Instrumente durch die Hände.
Sarcoma botryoides, lautete der lateinische Fachausdruck. Prognose: hoffnungslos. Nur wenige Patienten lebten länger als fünf Jahre, ohne daß es erneut auftrat. Seltsam, wie die Fünf bei Krebs immer wieder auftauchte, wie eine magische Ziffer. Warum nur?
Das Sarkom konnte nicht durch Bestrahlung allein bekämpft werden, also war ein radikaler Eingriff geboten. Ein Vers fiel ihm ein: »Fünf Faden tief liegt Vater dein, sein Gebein wird zu Korallen.« Ja, das war lange her. Shakespeares ›Sturm‹ war einer seiner Abiturtexte gewesen.
Mein Vater liegt im Sterben, man kann den langsamen Verfall beobachten, doch bei einem älteren Menschen lernt man, den Tod als etwas Unvermeidliches hinzunehmen.
Aber Mary-Jane mit ihren drei Jahren?
Deon beobachtete die Chirurgen bei der Arbeit. Wie ging es doch weiter? »Das nicht wandelt Meereshut in ein reich und seltsam Gut.« Eine Verwandlung fand nicht statt. Aber wer konnte wissen, welcher Art sie sein würde?
Er hätte nie gedacht, daß der Vater Mary-Janes seine Einwilligung zur Operation geben würde. Nicht dieser spröde Mensch mit dem feindseligen Blick. Aber warum nicht? Die Menschen sind seltsam, vielfältig und seltsam. Beide Eltern waren gestern weinend aus Professor Snymans Büro gekommen. Sie hatten nicht zu Mary-Jane hineingehen wollen, sondern waren halb verborgen hinter der Flügeltür stehen geblieben, um ihr Kind ein paar Minuten zu sehen. Dann waren sie still fortgegangen. Zur Abendbesuchszeit war dann die Mutter allein gekommen.
Heute Morgen hatten sie wieder gemeinsam das Kind besucht, der Vater noch immer kalt und fremd, aber seltsam verändert. Auch er machte eine Verwandlung durch. Was mochte der alte Snyman ihnen gesagt haben? Was hätte er, Deon, in einer solchen Situation zu sagen gewußt?
Nicht viel. Es gab nur zwei Möglichkeiten, und beide waren gleich grausam. Was Deon beschäftigte, war die Frage: Ließ man sie mit ihrer Entscheidung allein, oder legte man ihnen in den Mund, was man selbst beschlossen hatte?
Es gab kein Entrinnen. Die Verantwortung lag einzig und allein beim Arzt. Die Wahl war immer einfach: Leben oder Tod.
Wie hätte ich die Eltern beraten? grübelte Deon.
Professor Snyman arbeitete tief in der Bauchhöhle. Bill du Toit, der heute zweiter Assistent war, regulierte die Operationslampe. Es wurde wenig gesprochen. Keinem stand heute der Sinn nach den sonst üblichen makabren Scherzen.
Das Leben ist dein höchstes Gut – vergeude es, leugne es, wenn du willst, wende dich davon ab, gehe gedankenlos hindurch: es ist immer noch das größte Geschenk. Also ist alles, aber auch alles erlaubt, um es zu erhalten? Es ist besser, zu leben, als tot zu sein. Kein vernünftiger Mensch würde das bestreiten. Aber war es die Wahrheit?
War es besser, mit einem Wasserkopf dahinzuvegetieren, wie ein Tier dumpf dahinzudämmern? War es besser, zu leben, wenn kein schmerzstillendes Mittel der Welt mehr die Qualen eines unheilbaren Krebses zu lindern vermochte? Besser, zu leben, wenn chirurgische Verstümmelungen dich entstellen und zeitlebens einen Ausgestoßenen aus dir machen?
Die Antwort war nicht leicht. Wenigstens soviel habe ich gelernt, dachte Deon.
Professor Snyman und der erste Assistent berieten sich kurz und knapp miteinander. Der alte Herr stellte gereizt eine Frage, rümpfte die Nase und schob sich die Brille hoch, die ihm heruntergerutscht war. Die Schwester fummelte ungeschickt mit der Hakenpinzette, und er schnauzte sie an, was sonst gar nicht seine Art war. Als sie sich wieder ihren Instrumenten zuwandte,
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