Die Erde ist nah
ich ein Bild, dem ein zufälliger Pinselstrich einen geheimnisvoll beunruhigenden Ausdruck verliehen hat. Ich stelle übrigens auch fest, daß wir uns alle irgendwie verändern, sobald unsere Körper in den Gelände-Raumanzügen eingeschlossen sind. Ich erinnere mich, daß ich gestern den ganzen Tag auf dem Schlepper neben Williams gesessen bin und keinerlei Gefühl von Kameradschaft empfunden habe. Dabei ist Williams wirklich nicht nur mein Kamerad, sondern einer meiner besten Freunde. Ich glaube, daß der Helm mit dem Gesichtsverschluß und das durch die technischen Errungenschaften auf ein Minimum beschränkte Verständigungsbedürfnis Gefühlshemmungen hervorruft. Uns fehlt der gegenseitige Blick ins Gesicht auf die Mimik des andern, auf den Ausdruck in seinen Augen - und uns fehlt das Quatschen über nichts.
Sonst ist alles in bester Ordnung. Die Motoren springen einwandfrei an, obwohl sie gefroren sind. Wir alle sind nach der Ruhepause in gehobener Stimmung und überzeugt, daß es uns gelingen wird, das Gebiet von Sinus Sabaeus zu erreichen. O'Brien hat uns längst mit seiner Sehnsucht nach jenen fernen Gebieten im Süden angesteckt, nach etwas ganz anderem als diesem endlosen Ozean von Staub und Steingeröll; als wäre es möglich, auf diesem Planeten etwas anderes zu finden als Staub und Steine; vielleicht eine Oase, in der pittoreske Mars-Pflanzen wachsen oder unbekannte wunderbare Tiere sich bewegen oder gar fliegen . . . Natürlich sind unsere Vorstellungen nicht so naiv. Die automatischen, auf die Marsoberfläche entsandten Sonden haben uns genau gesagt, was wir erwarten dürfen, welch geringes Maß die strenge Wissenschaft dem hiesigen Leben zugemessen hat. Und doch ist in jedem von uns ein Stück jener geheimen und vom Verstand unbeherrschbaren Romantik und Sehnsucht, die die Grenzen der Wahrscheinlichkeit kühn überschreiten. Schließlich ist Träumen eine unerläßliche Grundbedingung des Fortschritts einer jeden Wissenschaft; denn auch die seriöseste wissenschaftliche Hypothese ist ja doch nichts anderes. Zu Mittag bestimmen wir unseren Standort. Dabei kommt eine Entfernung von fast sechzig Kilometern Luftlinie von der Basis heraus. Das ist geradezu phantastisch. In vier Stunden haben wir ein größeres Stück zurückgelegt als gestern den ganzen Tag. Wir sind zwar müde, kürzen aber die Mittagspause auf ein Minimum.
O'Brien ruft die Basis und verlangt Morphy - wegen des Wetters. Wer kennt sich schon in den hiesigen unberechenbaren Witterungsverhältnissen aus? Morphy kann uns nichts anderes sagen als das, was wir selbst sehen: Es scheint die Sonne, und es ist völlig windstill.
Die Sonne scheint bis zum Abend. Zweiundachtzig Kilometer Luftlinie von der Basis. Die stillgewordenen Maschinen sehen im nächtlichen Dunkel wie müde Tiere aus, die sich auf dem weichen Sand ausruhen. Hoch über dem westlichen Horizont schimmern frostige Nebelschleier. Nach Mitternacht sinkt der
Nebel und bedeckt die Wüste mit einer hauchdünnen Schicht Rauhreif von Karbondioxyd.
Am Morgen scheint wieder die Sonne. Im Augenblick, in dem die Maschinen losfahren, liegt der Reif nur noch im Schatten der Krater. Was wird uns der heutige Tag bringen? Noch vor dem Mittag erreichen wir den hundertsten Kilometer von der Basis. Wir sind zweieinhalb Tage unterwegs und haben fast ein Drittel der Entfernung zurückgelegt, die uns von Sinus Sabaeus trennt. Das ist geradezu unglaublich. Bis zum Abend verlängert sich die Luftlinie noch um einundzwanzig Kilometer.
Die Verbindung mit der Basis ist ausgezeichnet. Trotz der Müdigkeit sind wir von dem positiven Verlauf begeistert, und fast alle beteiligten sich am Gespräch mit der Basis, die mit der zunehmenden Kilometerzahl in unserer Vorstellung zur Heimat wird. Ich beobachte, daß aus dem Gespräch O'Briens mit dem Kapitän wieder die Herzlichkeit der alten Freundschaft herausklingt. Auch McKinley meldet sich zu Wort: »Sagt mal der Erdzentrale, daß ich von den Jungs aus dem technischen Stab eine Anweisung brauche, wie man im Laufschritt mit der Bohrgarnitur arbeiten kann.« Dieser Spaß verdirbt beinahe den Abend, denn O'Brien sieht darin den leisen Vorwurf, daß er McKinley nicht genug Möglichkeiten für die geologischen Forschungen gibt. Ich habe den Eindruck, daß O'Brien wirklich allergisch gegen alles wird, was auch nur im geringsten im Widerspruch zu seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen zu stehen scheint. McKinley hatte Mühe, O'Brien zu überzeugen, daß er
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