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Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Zipprick
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ein, sondern galt auch als herausragende Köchin. Höchst beliebt waren ihre Makrelen mit Sauerampfer. Kunden kamen reichlich, wenn auch mehr von der Sorte, die nicht mit klingender Münze, sondern mit einem Bild oder einer Zeichnung bezahlte. Alfred Delvau, ein Autor des Figaro , staunte schon damals über den schieren Reichtum an Kunst: Die Wände der Zimmer waren mit Kreis- oder Bleistiftskizzen übersät, es gab Karikaturen, Porträts und Poesie, darunter »ein gutes Porträt des Fräulein Toutain, ausgeführt von Armand Gautier, eine Idylle von Stephen Baron […] und vielleicht etwas zu viele Entwürfe von Rozier.«
    Ständig hatte die Familie Toutain Gäste, die später einmal in die Kunstgeschichte eingehen sollten: Die Maler Monet, Sisley, Boudin, Courbet und Daubigny suchten in ihrer Auberge Unterkunft und ließen sich den Cidre schmecken. Ganz nebenbei entstand hier die »Schule von Honfleur«, das Bindeglied zwischen der École de Barbizon und dem Impressionismus.
    Sechs Jahre nach dem Brief von Boudin, 1865, wurde der Bauernhof verkauft. Der neue Besitzer, Monsieur Chasle, erlaubte Mutter Toutain gerade noch, alle Bilder mitzunehmen, die arme Künstler ihr als Pfand oder statt Bargeld hinterlassen hatten. Vorbei war es mit dem Monat Vollpension für 40 Francs. Chasle ließ das Dach neu decken und errichtete einen Pavillon mit Meerblick.
    Mutter Toutain ging, und mit ihr gingen die meisten der Kunstschaffenden. Sie zogen in die Nachbarorte Deauville, Trouville, Dieppe oder Étretat. Catherine-Virginie Toutain verschwand aus dem Blick der Öffentlichkeit. Ganz mittellos wird sie nicht gewesen sein. Auch wenn einige ihrer Kunden, wie der junge Monet, noch Jahre auf ihren Durchbruch warteten, waren die Gemälde doch wertvoll genug, einen Chronisten des Figaro in das bescheidene Hotel zu locken.
    Eines jedoch vergaßen die großen Künstler ihrer Zeit: Niemand hatte die alte Herberge gemalt. Kein Bild zeigt uns heute den Bauernhof von Mutter Toutain, wir kennen die Umgebung, die Nebengebäude, aber nicht die Auberge selbst, so wie sie von Boudin und Monet frequentiert wurde.
    Die Herberge existiert heute noch unter dem Namen Ferme Saint-Siméon. Mit ihrem Luxus steht sie den Vorstellungen eines Chasle wohl näher als dem Esprit von Mutter Toutain: Rund um den Speisesaal hängen Repliken der Werke einstiger Stammkunden, auch die Bäderanlage ist beeindruckend. Doch Zeichnungen werden als Zahlungsmittel längst nicht mehr akzeptiert.
Dandy und Philanthrop
    Kunstsammler am Herd gab es wenige, doch berühmte Köche gab es schon damals viele. Die meisten wollen etwas erfunden haben, nicht wenige behaupten gar in aller Bescheidenheit, sie hätten die große Küche revolutioniert. Alexis Benoît Soyer (1810-1858) tat genau das Gegenteil: Er nutzte sein Wissen zur Verbesserung der Alltagsküche und war sich nicht zu schade, für die Ärmsten der Armen am Suppenkessel zu stehen.
    Soyer selbst stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater Emery Roch Alexis Soyer nahm mehrere Aushilfsarbeiten an, um die Familie halbwegs über Wasser zu halten. Seine Mutter Marie-Madeleine Françoise Chamberlan hätte es gern gesehen, wenn ihr Jüngster, Alexis, Priester geworden wäre, zumal seine Brüder Paul und René jung starben. Doch bereits mit neun Jahren zog es ihn ins nicht allzu ferne Paris, wo er mit seinem Bruder Philippe in einer Küche arbeitete. Sein Metier lernte er im Georges Rignon, bevor es ihn ins renommierte Restaurant Douix am Boulevard des Italiens zog. Vier Jahre stand er dort am Herd, bevor Alexis in die Küchen des Prinzen von Polignac im Außenministerium wechselte.
    In Paris war 1830 nicht jedem nach Schlemmen zumute. Als König Karl X. die Pressefreiheit aussetzte, die frisch gewählte Kammer der Abgeordneten chambre des députés auflöste und diverse andere machterhaltende Maßnahmen traf, entlud sich die Stimmung des Volkes in der Julirevolution. Das bekannte Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix – genau, die barbusige Dame mit der zerrissenen Trikolore in der rechten Hand – erinnert bis heute daran. Karl X. musste abdanken und wurde durch den »Bürgerkönig« Louis Philippe ersetzt.
    Auch Soyers Arbeitgeber Polignac wurde Opfer der Wirren.Das Volk verlangte zwar nicht seinen Kopf, doch Abdanken sollte er schon. Es heißt, ein wütender Mob sei in die Küche des Prinzen eingedrungen und hätte bereits zwei Köche getötet, als Soyer aus vollem Hals die französische

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