Die Erfinder des guten Geschmacks
sein »Manifest der futuristischen Küche«. Der Tonfall erscheint vertraut:
»Der italienische Futurismus, der Vater zahlreicher Futurismen und Avantgardismen im Ausland, bleibt kein Gefangener der weltweiten Siege, die er ›in zwanzig Jahren großer künstlerisch-politischer und oft mit Blut geheiligter Schlachten‹ errungen hat, wie Benito Mussolini es formuliert hat. Mit einem Programm zur totalen Erneuerung der Küche setzt sich der italienische Futurismus erneut der Unpopularität aus […] Wir sind überzeugt, dass in dem zu erwartenden künftigen Weltkrieg das agilste und sprungbereiteste Volk siegen wird; nachdem wir Futuristen die Weltliteratur mit den befreiten Worten und dem Simultanstil entschlackt […] haben, setzen wir nun die Nahrung fest, die einem immer luftigeren und schnelleren Leben entspricht.«
Der Begriff Avantgarde kommt aus dem Militär und bezeichnet die Vorhut. Als authentischer Küchen-Avantgardist war Marinetti davon überzeugt, die Zukunft befände sich dort, wo er momentan stand. Daraus folgerte nicht nur er, sondern auch jeder andere Avantgardist, dass der Fortschritt quasi von einer Handvoll Menschen generiert werde, während das »gemeine Volk« diesen hinterherzutrotten habe wie eine Schafherde dem Hirten.
Marinetti sprach sich für »die Erfindung plastischer Geschmackskomplexe, deren originelle Harmonie in Form und Farbe die Augen laben und die Fantasie anregen möge«, aus, er intendierte »die Kreation von simultanen und veränderlichen Bissen, die zehn, zwanzig verschiedene Geschmacksmomente enthalten und in wenigen Augenblicken gekostet werden können«. Solche Bissen würden eine Funktion wie die »Bilder der Literatur« haben und Geschichten erzählen können.
Ähnlich wie Maincave forderte Marinetti eine Allianz zwischen Küche und chemischer Industrie: »Nehmen wir die Chemie in die Pflicht: Sie soll dem Körper schnell die notwendigen Kalorien durch Nahrungsäquivalente zuführen, unentgeltlich vom Staat verteilt, in Pulver- oder Pillenform, die eiweißartige Stoffe, synthetische Fette und Vitamine enthalten […] In allen Schichten werden die Mahlzeiten weniger werden, aber vollkommen durch die täglichen Nahrungsäquivalente. Die vollkommene Mahlzeit erfordert: 1. Eine originelle Harmonie der Tafel (Kristall, Geschirr, Dekoration) mit dem Geschmack und den Farben der Speisen. 2. Die unbedingte Originalität der Speisen.«
In Küchen sollte ein »Ozongenerator« stehen, um »Flüssigkeiten und Speisen Ozongeruch zu geben«, dazu Lampen mit ultraviolettem Licht, »um Nahrungsmittelsubstanzen aktiver« zu machen. »Elektrolyseure« sollten »Säfte und Extrakte zersetzen«, »Kolloidmühlen« Mehle, Trockenfrüchte und Gewürze »mit einem sehr hohen Verteilungsgrad« pulverisieren. »Der Einsatz dieser Geräte muss wissenschaftlich sein […] Messgeräte werden Säuren beziehungsweise Basen von Saucen aufnehmen und dazu dienen, Fehler zu korrigieren.«
Und es blieb nicht bei der Theorie. In Turin servierte die Taverna del Santo Palato, die »Taverne zum Heiligen Gaumen«,den Gästen ab 1931 Avantgardeküche nach Marinettis Grundsätzen: Die Gerichte hießen jetzt »Sonnenbrühe«, »Luftspeise«, »Fleischplastik« und »Nahrungslandschaft«. Es gab ein »Fiat Huhn«, gefüllt mit Stahlkugeln, »exaltiertes Schwein«, also Scheiben von Salami in einer heißen Espresso-Sauce mit Kölnischwasser, sowie eine »Luftspeise«. Der Esser knabberte Oliven und Fenchel mit seiner rechten Hand, während seine linke Hand verschiedene Stoffteile berührte. Zwischendurch beduftete ihn der Kellner mit Nelkenparfüm, wurden die Ohren des Gastes mit einer Mischung aus Flugzeugmotorengeräuschen und Melodien von Johann Sebastian Bach »bearbeitet«.
Der Kolumnist Jean-Claude Ribaut beschreibt die Avantgardisten der damaligen Zeit. Da wäre einmal der Schriftsteller Paul Reboux, der die Küche durch eine »Theorie der Kontraste« revolutionieren wollte. Kontrast der Temperaturen, Kontrast der Konsistenzen und Kontrast der Naturen. Konkret bedeutete das, zum Beispiel heiße Kastanien mit kaltem Fleisch zu servieren. Oder Knackiges mit Weichem aufzutischen. Oder – und das soll den »Kontrast der Naturen« darstellen – wässriges Gemüse mit mehligem Gemüse, etwa ein Maronenpüree mit rohem Sellerie.
In seinem Buch Les Plats nouveaux (1927) schrieb Reboux stolz, dass durch seine Neuerungen »das Prestige der Kunst unsere Gerichte verschönern wird«. Seine Innovationen wie
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