Die Erfinder des guten Geschmacks
Vergnügens mehr […] sondern eine Verpflichtung, die wir mit flüchtiger Hatz auf uns nehmen.« Gegen Ende seines Lebens sah er aufgrund dieses Zeitmangels einen Verfall der kulinarischen Kultur kommen. Nignon musste es wissen: Schon mit neun Jahren lernte er im Restaurant Cambronne in Nantes, dann, ein Jahr später, bei Chez Monnier, dem besten Lokal der Stadt. Sein Vater war Tagelöhner, seine Mutter übte den Beruf der Lingère aus. Sie wechselte die Wäsche an öffentlichen Orten. Acht Kinder hatte das Paar. Gut also, dass der junge Edouard schon einem Beruf nachging. Mit Fünfzehn öffnete ein Empfehlungsschreiben seines Lehrherren ihm die Tür des heute noch existierenden Traiteurs Potel & Chabot. In der MaisonDorée, einem der besten Lokale der französischen Hauptstadt, eignete er sich den letzten Schliff an, bevor er weiterzog: Nignon kochte im Château de Chantilly, im Café de la Paix und im Marivaux. Nach Wien zog es ihn 1892, ins Trianon. Dann wieder Paris, wo er im Paillard kochte. Acht Jahre später ging er nach Moskau, befehligte im Hotel Ermitage eine Brigade von 120 Köchen, bevor er die Direktion der Küchen des Hotel Metropole übernahm. Die russische Oktoberrevolution 1917 setzte den luxuriösen Diners der Adligen ein Ende. Viele flohen vor der »Diktatur des Proletariats« nach Paris. Auch Nignon kehrte nach Frankreich zurück, eröffnete das Hotel Majestic und kaufte dann, im Alter von 43 Jahren, das Larue in Paris. Das Lokal besaß einen guten Ruf, war aber in den vergangenen Jahren ein wenig heruntergekommen. Doch Nignon brachte den verlorenen Glanz zurück. Sacha Guitry, Edmond Rostand und Marcel Proust waren seine Stammgäste. Zudem kochte er gelegentlich im Elysée-Palast, bewirtete Minister und, während des Ersten Weltkrieges, den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Das Larue machte 1,6 Millionen Francs Umsatz pro Jahr – eine kolossale Summe.
1919 veröffentlichte der große Koch das Heptaméron des Gourmets mit einem Beitrag des Poeten Guillaume Apollinaire. Ein Sammlerstück, gedruckt in einer Auflage von 1500 Exemplaren, wovon jedes einzelne 1000 Francs kostete. Im Jahr 1921 zog sich Nignon in sein Schloss westlich von Rennes zurück. Das Restaurant verkaufte er an seinen Partner Célestin Duplat.
Edouard Nignon widmete sich von jetzt an dem Schreiben. Zwei Kochbücher, Plaisirs de la table (1926) und Éloges de la cuisine française (1933), stammen aus seiner Feder. Anders als seine Zeitgenossen scheinen ihn dabei besonders die Bittertöne zu faszinieren: Enzian, Kamille und Chicorée wandern indie Gerichte. Er sah diese Zutaten als appetitanregend und verdauungsfördernd, sofern sie nicht für sich allein standen, sondern sinnvoll in ein Gericht »eingewoben« waren.
Es sind solche vermeintlichen Details, die ihn von Escoffier unterscheiden. Spezialitäten wie Hummerschwänze Villemain, Lachsforelle à la Villars oder Rehnüsschen Comtesse folgten der damaligen Gewohnheit, Gerichte nach hochwohlgeborenen Herrschaften oder bedeutenden Plätzen zu benennen.
Doch noch ein Punkt unterscheidet Nignon von Escoffier. Ersterer war Unternehmer, Letzterer Angestellter in Luxushotels. Viele große Köche waren damals Angestellte, das Lokal gehörte dem Restaurateur, der in Kontakt mit den Gästen stand.
Knapp 40 Jahre nach Nignon würden die Protagonisten der Nouvelle Cuisine vorgeben, sie selbst hätten den Berufsstand der Köche aus dem Angestelltendasein befreit. Nignon jedoch hatte ihre Ideale, von der Selbstständigkeit bis zum Bekenntnis zur Kreativität, bereits gelebt.
7. D IE MARTIALISCHE A VANTGARDE
»Die Kunst der französischen Küche klebt leider an zehn Rezepten, die immer gleichen Gerichte, hundertfach umbenannt […] Seit drei Jahrhunderten haben wir wenige wirklich neue Gerichte […] Öl gemischt mit Essig ergibt eine klassische Sauce, aber Rum mit Schweinsjus ist ein häretischer Gedanke. Warum? Auch bei der Würzung sind wir unheimlich begrenzt: Wir nutzen Lorbeer, Thymian, Schnittlauch, Petersilie und Schalotten, während der Fortschritt der Chemie es uns erlauben würde, Rosen, Lilien und Maiglöckchen zu nutzen […]«
Der Franzose Jules Maincave, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Pariser Stadtteil Saint-Germain kochte, war ein Avantgardist. Er war sogar ein Avantgardist im heutigen Sinne, schließlich wollte er schon vor gut hundert Jahren die chemische Industrie zum Küchenhelfer ernennen, was wahrlich früh war angesichts dieser recht neuen
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