Die Erfinder des guten Geschmacks
Makrele mit Stachelbeeren, Austern mit Spinat oder Erdnuss-Soufflé waren im Vergleich zu Maincave und Marinetti geradezu konservativ, doch auch bei Reboux herrschte der Anspruch vor, die Kunst in die Küche einziehen zu lassen. Besonders hatte es ihm ein Huhn mit Karamell und Minze angetan.
Maurice des Ombiaux, ein belgischer Autor, lehnte sich 1936 stärker an die extremen Vorbilder an und lobte die »Intrasauce« aus »Apotheke und Laboratorium«, die man direkt ins Fleischspritzte. Dagegen wurden Kritiker von den Avantgardisten stets rau abgebürstet. »Die Opposition von Handwerkern kann die Kraft von Künstlern nicht besiegen«, erklärte Marinetti.
Vielleicht waren es nicht die Handwerker, die Marinettis kulinarische Visionen letztlich in die Schranken wiesen. Die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg durften das Ihrige beigetragen haben. Nach Jahren der Entbehrung wollten sich nur wenige Menschen mit magerer, rationierter Kost und Kölnischwasser abspeisen lassen.
Doch Marinettis zentrale Ideen, wie die »unbedingte Originalität«, die »zehn, zwanzig verschiedenen Geschmacksmomente«, die »originellen Farben«, das »Geschichten Erzählen«, feierten quasi in Tateinheit mit der schon von ihm und Maincave geforderten Allianz mit der Chemieindustrie einige Jahrzehnte später ein triumphales Comeback.
8. D IE M ÜTTER VON L YON
Während die Avantgardisten von der Allianz mit der allmächtigen Chemieindustrie träumten, hatte sich in der französischen Stadt Lyon ein kleines Feinschmeckerparadies gebildet: Im Norden lagen das Elsass und Lothringen mit ihrer Küche, im Süden die Provence mit Frühgemüse und Olivenöl. In der nahen Umgebung scharrte das Bresse-Geflügel und grasten Charolais-Rinder. Krebse, Hechte, Zander, Karpfen und Frösche lebten in den Seen der Umgebung.
Den kulinarischen Ruhm von Lyon begründeten eine Reihe von Köchinnen, die stets nur »Mütter« genannt wurden.
Die erste war Mère Guy, die 1759 eine Schankwirtschaft an den Ufern der Rhône eröffnete und deftiges Aalragout servierte.
Gut 100 Jahre später gab es wieder eine Mutter Guy, die Enkelin der ursprünglichen Besitzerin. Sie wurde »das Genie« gerufen, hielt von 1936 bis 1939 drei Michelin -Sterne und war berühmt für ihr Gratin von Krebsschwänzen, Poularde à la villageoise oder gefüllte Forelle.
Etwa gleichzeitig servierte Mutter Brigousse ihr Huhn in Essig.
Bei Mutter Bizolon (1871-1940) speisten Soldaten stets gratis. Ihr Sohn war 1915 im Ersten Weltkrieg gefallen. Edouard Herriot, der Bürgermeister von Lyon, verlieh ihr deswegen das Kreuz der Ehrenlegion.
Mutter Fillioux (1865-1925) war Hausköchin bei Gaston Eymard, dem Direktor einer Versicherungsgesellschaft, bevor sie mit ihrem Mann ein Bistro eröffnete. Die Karte änderte sich selten, auf die Tische kamen Suppe mit Trüffeln, Hechtklöße mit Krebsbutter, Artischocken mit Foie gras und Poularde in Halbtrauer, also mit Trüffeln unter der Haut.
Elsia Blanc, genannt Mutter Blanc, wurde in den 1930er-Jahren mit zwei Sternen im Michelin für ihr Restaurant in Vonnas nördlich von Lyon ausgezeichnet. Ihre Gerichte wie Poularde mit Morcheln und Kalbskotelett in Sauerampfer waren berühmt. Sie ist die Großmutter des großen Kochs Georges Blanc, der natürlich immer noch in Vonnas auftischt.
Mutter Jean und Mutter Vittet widmeten sich dem rustikalen Repertoire, wie Andouillettes (Kuttelwürste) aus der Pfanne oder Schneckenpfännchen, während andere Mères sich der Haute Cuisine verschrieben: Marie-Louise Auteli arbeitete einst als Spülerin bei Mère Pompom. Jahrzehnte später leitete sie die Küche, servierte Ente à l’Orange oder Kalbsnieren in Madeira und war unter dem Namen Tante Paulette bekannt.
Mutter Bourgeois, Vorname Marie, hielt ebenfalls drei Sterne im Michelin , der Aga Khan schaute regelmäßig bei ihr vorbei, um ihre warme Pastete zu kosten.
Eine jedoch war die »Mutter aller Mütter«.
Die Frau mit der goldenen Küche
Wer der Frage nachgeht, welcher Koch denn wohl der größte des 20. Jahrhunderts war, der kommt irgendwann zu Fernand Point, der die Nouvelle-Cuisine-Elite ausbildete. Oder zu Alain Ducasse, der in Frankreich gleich zwei Restaurants mit Höchstwertungen in allen Guides betreibt. Und ein weiteres in Londonnoch dazu. Nur eine Cuisinière wird stets übersehen: Eugénie Brazier aus Lyon (1895-1976). Zwei Top-Restaurants hat auch sie gehabt, eines in der Rue Royale 12 in Lyon, berühmt für Hechtklöße, Poularde
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