Die Erfinder des guten Geschmacks
desillusioniert – Chapel über den Zustand des eigenen Berufsstands war, zeigt das Kapitel »Die Zeit der Imitation« aus seinem Buch:
»So viel Lidschatten, so viel Make-up, neue Schminke: Die Küche verliert das Vertrauen in sich selbst. Sie entflüchtet sich in eine Art Maskerade […] Heute will man simplifizieren, verschlanken, den Genuss des Rohen neu entdecken […] Mehr als je zuvor konsumieren die Esser des 20. Jahrhunderts Symbole, gleichzeitig mit ihren Grilladen und rosa an der Gräte gebratenen Fischen. Die Zutaten interessieren einige Köche weniger als die kulinarische Verpackung […] Die Küche wird […] eine Art prêt-à-porter , das der Mode gehorcht.«
Das Restaurant Alain Chapel, fortgeführt von seiner Witwe, Philippe Jousse und Sohn Romain, schloss 2012 seine Pforten, trotz guter Kritiken und zweier Sterne im Guide Michelin . ZweiSterne hießen: »sind einen Umweg wert«. Der Umweg von 23 Kilometern von Lyon nach Mionnay war den Feinschmeckern dennoch zu viel.
Alain Chapel war einer der profiliertesten französischen Köche, der seiner Region und ihren Lieferanten tief verbunden blieb.
Das Duo aus Roanne
Zu den «Bandenmitgliedern« der ersten Stunde gehörten auch die Brüder Pierre (*1926) und Jean (1926-1983) Troisgros.
Jean-Baptiste und Marie Troisgros mochten es eher einfach: Nach ein paar Jahren in ihrem Café des Négociants in Chalon-sur-Saône zogen sie 1930 nach Roanne und erwarben das Hôtel des Platanes nahe dem Bahnhof. Gesäumt wurde es damals von der Nationale 7, der Straße von Paris nach Süden, was regelmäßige Durchreisende versprach. Marie kochte einfach und gut, Jean-Baptiste begrüßte die Gäste und pflegte den Weinkeller. Doch mit seinen Söhnen hatte Jean-Baptiste Großes vor: Er speiste selbst gern hervorragend, der Nachwuchs sollte zu großen Köchen reifen. Pierre, eher rundlich mit Schnäuzer, und Jean, schlank und mit schon bald grau meliertem Vollbart, lernten im Lucas Carton in Paris, wo sie sich mit Paul Bocuse anfreunden, sowie – natürlich, möchte man fast sagen – in der Pyramide in Vienne.
Als die beiden nach Roanne zurückkehrten, übertrug Vater Jean-Baptiste ihnen schnell das Restaurant und riet ihnen, Schulden zu machen, um es schnell auszubauen. Damals waren Kredite in Frankreich extrem günstig, es war ein guter Rat.
»Ich habe das beste Restaurant der Welt gefunden«, beschrieb Kritiker Christian Millau sein Ess-Erlebnis bei den Brüdern Troisgros. 1968 fielen drei Sterne auf das Haus im Bahnhofsviertel, die Pierre nach der Rückkehr von einer Reise nach Japan lakonisch kommentierte: »Der Anfang der Schwierigkeiten – le début des emmerdes « (zitiert nach: Nicolas Chatenier: Mémoires de chefs ).
Ja, die Reise nach Tokio. Pierre Troisgros erzählte 2012 dem französischen Autor Nicolas Chatenier, der die Erinnerungen der Nouvelle-Cuisine-Köche protokollierte, die Ästhetik der japanischen Küche, ihre Raffinesse sowie der Sinn der Köche für Garzeiten hätten ihn schwer beeindruckt. Als französischer Bonvivant meinte er jedoch, dass es ein bisschen einfach sei, ein Schälchen mit Sashimi zu füllen oder Reis auf Algen zu drapieren. »Ein Irrtum«, wie er heute zugibt, wenn auch einer ohne tragische Folgen. Etliche andere Köche reisten, ließen sich inspirieren und versuchten meist vergebens, ein Stück japanische Ästhetik nach Europa zu bringen, was Gäste und Kritiker zur Verwunderung trieb. Lag dort etwa »Ikebana auf dem Teller«?
Pierre und Jean schützten das Haus vor solchen Moden. Der britische Autor Quentin Crewe, der Frankreichs große Köche in den Siebzigern bereiste, erklärte in Great Chefs of France , bei Troisgros bekäme man alles, was man möchte. Deren Restaurant sei »das einzige Drei-Sterne-Restaurant, in dem man das Gefühl hat, es könnte ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Essen und Sattwerden bestehen«. Gebratene Entenleber mit Spinat, Jakobsmuscheln unter Blätterteig, Rinderkoteletts in Fleurie-Wein und natürlich das legendäre Lachsschnitzel in Sauerampfer gehörten zu den Spezialitäten von damals. Letzteres war so erfolgreich, dass sein Rezept mit der Zeit immer weiterentwickelt wurde. Bei Troisgros muss es Dutzende von Versionen gegeben haben.
Pierre Troisgros erinnert sich, so Nicolas Chatenier, wie neue Möglichkeiten die Küche veränderten: »In den Sechzigerjahren erlaubte die Dampfgarung, die Hitze zu regeln […] Die Ankunft des Teflon war ein Segen, genau wie die
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