Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Zipprick
Vom Netzwerk:
sich auf einige PR-Veranstaltungen und eine Fernsehsendung, in der Paul die Mikrowelle lobte. Im deutschen Sprachraum wurde das Missverständnis, das ihn zum Propheten der neuen Küche erklärte, durch seinen damaligen Verlag verschärft. Der taufte sein Werk La Cuisine du marché einfach zur »neuen« statt zur »marktfrischen Küche« um.
    Gerade Bocuse hat später immer wieder mit »nichts auf dem Teller, alles auf der Rechnung« gegen diesen Slogan der Journalisten Henri Gault und Christian Millau geschimpft. Die zehn Gebote der Kritiker Gault und Millau kommentierte er laut Nicolas Chatenier in Mémoires de chefs noch 2012 mit klaren Worten: Sie »waren Scheiße«. Und über die Küche seines Kollegen Michel Guérard sagte er einmal laut Quentin Crewe, das Leben sei zu kurz für Diätmenüs.
    Zwei wie Pech und Schwefel: Paul Bocuse und der gallische Hahn. Das Federvieh prangt als Tattoo sogar auf seiner Schulter.
    »Paul ist der direkte Erbe der Küche von Fernand Point«, meint etwa sein Freund Pierre Troisgros. Die Cuisine des größten Chefs der Fünfzigerjahre war üppig, aber produktbezogen. Einige Gerichte wie die Seezunge mit Nudeln standen schon auf Points Karte. Seit Juli 2005 jedoch wurde er nachdenklich: Eine dreifache Bypass-Operation rettete den Chef in letzter Minute. »Ich bin im letzten Juli gestorben«, sagte er selbst mit gebrochener Stimme. Daher die Memoiren von 2005, daher auch eine nachdenklichere Sicht auf die Küche: »Es gibt Klassik und es gibt Rap. Ich verteidige die Klassik […] Die wissenschaftlichen Methoden übersteigen meinen Intellekt […] Ich weiß lieber, wie die Henne ernährt wurde, statt zu erfahren, auf wie viel Kubikmeter ich ein Eiweiß strecken kann.« Besonders der Brüsseler Hygienewahn irritiert ihn: »Wir Köche werden eines Tages nur noch vorgekochte Produkte zusammensetzen […] Schon heute haben wir aus Hygienegründen nicht mehr das Recht, einenSaucenfond anzurühren. Es sei denn, wir schmeißen ihn abends weg.« Er hätte auch sagen können: Es sei denn, wir benutzen Suppenwürfel. Oder Zusatzstoffe. Das ist inzwischen erlaubt, nein, erwünscht.
    Zum Erfolg des jungen Paul Bocuse trug entscheidend bei, dass er nicht nur ein Koch mit einem Lokal war, sondern der Anführer der »Bande von Bocuse«. Deren Keimzelle bildete sich zuerst in Lyon und bestand aus Köchen, die nicht viel mehr gemeinsam hatten als ihre Herkunft – und vielleicht die Lehrzeit bei Point.
Küche ist mehr als nur Rezepte
    Einer der profiliertesten war Alain Chapel (1937-1990). Der Mann aus Mionnay bei Lyon, dessen bekanntestes Kochbuch La cuisine c’est beaucoup plus que des recettes (Küche ist mehr als nur Rezepte) hieß, galt vielen Genießern als besserer Koch als Bocuse, ein souveräner Feinarbeiter am Herd. Und weil gute Küche in seinen Augen eben mehr als nur Rezepte war, lobte er schon in den Siebzigerjahren bei jeder Gelegenheit seine Lieferanten aus der Region: Marinette vom Bauernhof Ferme de Montfalcon mit ihrer Geflügelzucht, Monsieur Lancelot, der Blumen und Kräuter lieferte, Walderdbeeren und Himbeeren kamen von einem Herrn Jasserand. Auch wenn er in den Medien als Protagonist der Nouvelle Cuisine dargestellt wurde, blieb der Schüler von Jean Vignard und Paul Mercier, der La Pyramide nach dem Ableben von Fernand Point fortführte, tief in seiner Region verwurzelt. Chapel machte keinen Hehl aus seiner Bewunderung für bäuerliche Gerichte einfacher Auberges wie die Crêpes von Madame Trenel oder die Sanguette, ein Fladen mit Hühnerblut.
    Beides servierte er nicht. Stattdessen gab es Krebse mit Kerbel und Waldpilzen, Leber vom Seeteufel mit Mangoldragout, warme Pastete von der Ente mit Sauce Rouennaise und Artischocken oder junges Bresse-Huhn, in der Schweinsblase gegart, mit Sauce Albufera. Chapel verbot dem Servicepersonal, Salzstreuer auf den Tischen zu platzieren, hatte aber überhaupt nichts gegen Gäste, die nichts vom Essen verstanden. Sie können doch noch lernen, pflegte er zu sagen. Sein Restaurant war ein idealer Ort für die erste Lektion.
    In frühen Interviews erklärte Chapel stets, dass er am Herd nach la verité , nach der »Wahrheit«, suche. Seine persönliche Gralssuche ging mit 53 Jahren zu Ende und wurde fortan von seinen Schülern fortgeführt. Philippe Jousse kochte in Chapels Restaurant. Alain Ducasse sah in Chapel auch dann noch sein großes Vorbild, als er längst erfolgreicher als der ehemalige Lehrmeister war.
    Wie visionär – und

Weitere Kostenlose Bücher