Die Erfinder des guten Geschmacks
Abnabelung eines Chefs von seinem Restaurant war damals neu, für einige Gäste auch schockierend. In gewisser Weise hat er damit anderen Köchen wie Alain Ducasse den Weg bereitet. Glorie, Grandeur und Größenwahn lagen bei Monsieur Paul immer nahe beieinander: Seine »Auberge« ist in den Signalfarben Rot und Grün gehalten, über und über mit Kitsch und Tralala in Trompe-l’œil »verschönert«. Eine gemalte Ahnengalerie der französischen Küche – Fernand Point, Mère Brazier und viele andere – wird von Literaturkritiker Bernard Pivot erläutert. Innen gibt es eine überbordende Bilderkollektion mit allen Großen dieser Welt. All das war sorgfältig geplant, denn Bocuse vertraute auf die Macht der Bilder: Seine Freunde Dominique und Alain Vavro, Grafiker und Künstler, statteten sein Restaurant Mitte der Achtzigerjahre mit einer visuellen Identität aus.
Paul war der Grand Chef für Frankreichs Gesellschaft, aber immer auch der gute Kumpel. François Mitterrand meinte einmal zu ihm, mit Anspielung auf die Trüffelsuppe »Giscard d’Estaing«: »Bitte servieren Sie mir nie Wachteln ›große Koalition‹.«
Am 30. Oktober 2000 bekamen auch sämtliche deutschen Köche der Extraklasse Post vom Mann aus Lyon. Sie wurden nach Paris gebeten, zum Abschied von Michelin -Direktor Bernard Naegellen. Bocuses Idee: Die Köche Europas sollten ihrem ehemaligen Tester eine Kochjacke mit ihren Autogrammen schenken. Dies sei eine Geste der »Dankbarkeit und Freundschaft«.
Nur eines ist Bocuse entgegen eines weitverbreiteten Missverständnisses nicht und will es auch gar nicht sein: der Prophet der Nouvelle Cuisine.
Paul war im Grunde stets konservativ: Sein Großvater Joseph war Koch. Weil Großmutter Maria, so erzählte man in Lyon, den Gästen wohl ein wenig zu gut gefiel, wurde Josepheifersüchtig und verkaufte nicht nur das Lokal, sondern sogar den Familiennamen an einen Monsieur Borisoff aus Russland. Auch Vater Georges war Koch, seine Mutter stammte aus einer Gastronomenfamilie. Geboren wurde Paul über der Gaststube, dieses Zimmer nutzt er noch heute. Auf die Frage eines Restaurantkritikers, was er im Laufe der Jahrzehnte hier verändert hätte, antwortete Bocuse lakonisch, er hätte die Bettwäsche neu bezogen.
Die ersten Versuche in der Küche unternimmt er 1942 in einem Lyoner Restaurant. Es herrschte Krieg, eingekauft wurde auf dem Schwarzmarkt. Zwei Jahre später kämpfte er selbst im Elsass, wurde von einer deutschen Kugel schwer verwundet. In einem amerikanischen Lazarett retteten die Ärzte sein Leben mit Transfusionen. »In meinen Adern fließt amerikanisches Blut«, kommentierte er. Kurz nach dem Krieg machte er in Paris auf dem Schwarzmarkt Geschäfte, frequentierte das Nachtleben der Hauptstadt und ließ sich einen gallischen Hahn auf die Schulter tätowieren.
Mit 23 Jahren fand er den Weg zurück in die Küche, arbeitete bei Mutter Brazier in Lyon, bei Fernand Point in Vienne und schließlich im Luxuslokal Lucas Carton in Paris. Bei Mutter Brazier waren die Tage lang: Von fünf Uhr morgens bis 23 Uhr wurde gearbeitet – nicht nur gekocht, das wäre zu wenig. Bei Muttern gab es Kühe zu melken, einen Gemüsegarten zu bestellen und natürlich mussten die jungen Köche auch die Wäsche waschen. Bocuse verehrte seinen Lehrmeister Point, sagt, er sei sein Mentor, sein Pygmalion, ein wahrhaft großer Mann gewesen. Im Lucas Carton spielten er und seine Küchenkumpels dem Chef diverse Streiche. Einmal, heißt es, hätte er Schädel aus den Pariser Katakomben stibitzt, die der dortige Chefkoch Gaston Richard später im Saucentopf wiederfand.
Von 1956 bis 1959 arbeitete Paul Bocuse Seite an Seite mit seinem Vater in der familiären Auberge, dem Lokal des Schwiegervaters. Den Weg zu den Sternen schlug er nach dem Ableben von Georges ein. Das Lokal, dessen Toiletten sich damals noch im Hinterhof befanden, renovierte er mit seiner Frau Raymonde. Aus dem Wettbewerb Meilleur Ouvrier de France geht er als Sieger und »bester Handwerker Frankreichs« hervor. Die drei Sterne des Guide Michelin gewann er 1965, mit 36 Jahren, dank Gerichten wie Schinken, im Heu gegart, Forellenmousse, Seewolf in Teigkruste oder gegrillter Poularde.
Paul Bocuse, der Mann, der den Köchen ihre Namen gab, kaufte auch seinen zurück: den Namen, den Großvater Joseph an Borisoff abgetreten hatte.
Sein Ausflug in die Nouvelle Cuisine, wie sie von den Restaurantkritikern Henri Gault und Christan Millau gepredigt wurde, erschöpfte
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