Die Erfinder des guten Geschmacks
Hintergrund: Die Leserpost zum Lokal.
Erst 2013 wurde das Protokoll der Begegnung zwischen dem damaligen Michelin -Direktor Derek Brown und Bernard Loiseau veröffentlicht: »Ich sprach über unsere Sorgen, Irregularitäten, Mangel an Seele; an Charakter in seiner Küche und die Leserpost, die in Sachen Qualität sehr gemischt ist. Sichtlich geschockt hat er das ernst genommen. Wir werden sehen«, notierte Monsieur le Directeur . Ein Küchenleben, resümiert in wenigen Sätzen in fehlerhaftem Französisch. Das Treffen fand nicht einmal fünf Monate vor Loiseaus Selbstmord statt.
Das Boot war voll
In Frankreichs Küchen blieb ein Generationswechsel aus. Die Großen der Nouvelle Cuisine wie Bocuse und Guérard tauchten Aufsteiger in ihren langen Schatten. Eigenes Profil erlangten lediglich Robuchon, Ducasse und ein Jahrzehnt lang Loiseau. Neue Talente setzten sich selten dauerhaft durch, zumal die Stars der Branche regelmäßig junge Köche bestens ausbildeten, die es prompt zum eigenen Spitzenrestaurant drängte.
Kaum etwas demonstrierte dies so gut wie ein Blick in die Restaurantführer:
Meine 50 besten Restaurants Frankreichs prangt stolz auf dem Buchtitel, die gut 272 Seiten beschreiben minutiös die besten Gerichte von Robuchon, Savoy, Senderens, Guérard, Maximin und Konsorten. Gagnaire, Troisgros, Bras – die 50 besten Restaurants strotzten mit Superlativen. Würden Alain Ducasse und Olivier Roellinger nicht durch Abwesenheit glänzen, könnte man glauben, das Buch wäre eben auf den Markt gekommen. Es erschien jedoch 1986, sein Autor Henri Gault ist im Jahr 2000 verstorben. Aber das Werk schien auch drei bis fünf Jahre nach seinem Ableben verblüffend aktuell, selbst die Preisspalte irritierte nicht über Gebühr. Wer die Francs-Preise eins zu einsin Euro übertrug, hatte ein relativ realistisches Bild von den Kosten eines schönen Abends zu zweit.
Die neuen Stars waren die alten Stars: Köche wie Guy Savoy oder Alain Dutournier wurden quer durch die Jahrzehnte (und unabhängig von ihrem Lebensalter) als Wunderkinder gehandelt. Der Nachwuchs wurde international ebenso wie in Frankreich kaum wahrgenommen. Die Branche wurde erdrückt durch das Image der Gründerväter.
»Der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass wir damals als junge Köche eine Botschaft vermittelt haben«, sagte mir Alain Senderens, Jahrgang 1939. »Wir haben konsequent mit den Traditionen gebrochen.«
Nach dem Ende der Nouvelle Cuisine fehlten neue, mediengerechte Schlagworte. Dringend hätten neue Tabus erfunden werden müssen, damit ein Koch endlich wieder eines davon medienwirksam brechen konnte. Schlagzeilenträchtige Trends waren nicht erkennbar. Nicht wenige Köche wollten, dass ihre Gerichte schmeckten, als hätte man Ducasse oder Robuchon geklont. Ob Ducasses wegweisendes Gemüsemenü aus dem Louis XV, Robuchons Kartoffelpüree oder jede erfolgreiche Modeerscheinung – und sei sie noch so klein –, alles wurde beliebig kopiert. Roellingers Spezialitäten wurden gar so dreist abgekupfert, dass sich der Küchenchef einige Bezeichnungen seiner Gerichte wie »Retour des Indes« urheberrechtlich schützen ließ.
»Wir wollten uns von der Generation unserer Väter lösen«, erzählte Senderens. »Heute findet eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Meistern kaum noch statt.«
Tatsächlich scheint die Erfolgsbilanz der Nachwuchsköche durchwachsen: In der Hauptstadt Paris etwa konnte nur Pascal Barbot vom Astrance ohne Finanzierung durch Sponsorenein Top-Lokal eröffnen. Viele von Barbots Kollegen wollen zu schnell zu viel. Was die Familien Troisgros und Haeberlin in drei Generationen mühsam erwarben, soll jetzt in zehn Jahren aus dem Boden gestampft werden. Keinem kam in den Sinn, dass der Markt für Spitzenrestaurants vielleicht schlicht und einfach durch Anzahl und Kaufkraft der potenziellen Gäste begrenzt sein könnte.
Didier Oudill etwa, Schüler von Guérard, war im winzigen Dorf Grenade-sur-l’Adour mit seinem Pain Adour et Fantaisie höchst erfolgreich, erntete gute Noten in allen Guides. Sein nächstes Lokal, das Café de Paris in Biarritz, war deutlich größer und teurer. Als die Gäste rarer wurden, zog er sich von der Haute Cuisine in die Bistroküche zurück und eröffnete das Dauphin in Paris.
Nachwuchstalente wie Thierry Breton und Yves Camdeborde, beide Schüler von Christian Constant im noblen Hôtel de Crillon, verzichteten auf kostspielige Experimente in der Spitzengastronomie und
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