Die Erfindung des Abschieds /
fragte Schütz.
»Wo sind eigentlich die Loks?«, fragte er.
»Ha, das hat Ihr Kollege, der mit Ihrer Kollegin hier war, auch gefragt!« Schütz riss sich aus seiner Erstarrung los, machte einen Schritt auf die Modellbahn zu und hob das Dach der Halle mit den gelben Türen hoch. »Hier sind sie, das ist das Depot. Und es ist streng verboten, das Dach abzunehmen!« Er setzte es wieder drauf und sah Süden skeptisch an.
»Wissen Sie, welcher See das ist, über den die Brücke führt?«, fragte Süden.
Schütz schaute hin, als sähe er das Ensemble zum ersten Mal. »Irgendein See. Herr Vogel hat nie davon gesprochen, dass er etwas aus der Wirklichkeit nachbaut, das ist alles reine Phantasie.«
»Und der rote Felsen mit dem Leuchtturm?«
»Alles reine Phantasie.«
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«, fragte Sonja Feyerabend.
»Weil mir Herr Vogel gesagt hätte, wenn er da eine echte Landschaft nachgebaut hätte, er hat ja gern über sein Hobby gesprochen, eigentlich hat er, wenn er überhaupt gesprochen hat, nur über sein Hobby gesprochen.«
Süden kniete sich hin und studierte jedes Detail im Umkreis des Sees. Aus den Protokollen, die ihm Sonja zum Fall Raphael gegeben hatte, war ihm die Bemerkung einer Frau in Erinnerung, bei der es um eine Insel ging, die er von Fotos her kannte. Auch Raphael hatte bei seiner Vernehmung eine Insel erwähnt.
»Lass uns gehen«, sagte er und stand auf.
»Hast du was gefunden?«, fragte Sonja.
»Ich weiß noch nicht.«
Auf dem Parkplatz des Innenhofs, wo Sonja ihren Wagen abgestellt hatte, umarmte Süden seine Freundin, und sie hielt ihn fest.
»Du musst mir sagen, was du gesehen hast«, sagte sie leise.
»Ich hab dasselbe gesehen wie du.«
»Du hast mehr gesehen, du bist der
Seher
von uns beiden.«
»Nein!« Er machte sich von ihr los. »Hör auf damit! Ich seh gar nichts, ich bin überhaupt nichts Besonderes, lass mich in Ruhe damit. Die Leute denken immer, ich mach Tai-Chi oder Taekwondo oder was da alles über mich geschrieben wird, aber ich tanz bloß, weil ich die Kraft dazu hab. Und ich trommel auch nicht, weil ich damit irgendeinen Zauber verbreiten will, sondern weil es mich entspannt und weil ich kein anderes Instrument kann.«
»Warum sagst du so was? Du belügst dich, warum? Warum machst du dich klein? Warum verleugnest du dich vor dir selber?«
Er drehte sich um und blickte die schwarze Hauswand an, die eigentlich grün war.
Sonja stellte sich hinter ihn und schlang die Arme um ihn. »Du bist nicht schuld an Martins Tod, du bist nicht schuld.«
Er hielt sich die Hände vors Gesicht, damit er die Wand nicht sehen musste, die auf ihn zukam.
»Es war seine eigene, freie Entscheidung«, sagte sie und strengte sich an, fest daran zu glauben. »Niemand von uns hätte ihn retten können, er war nicht mehr erreichbar für uns, er ist weggegangen von uns, lange bevor er sich erschossen hat.«
An einem der Häuser schlug ein Fenster, das Klappern eines Fahrrads kam näher, Radiomusik erklang und verstummte. Und es fing wieder an zu nieseln.
»Ich möchte jetzt allein sein«, sagte Süden, nahm die Hände vom Gesicht und roch den kalten Hauch der Wand.
»Schade«, sagte Sonja und ließ ihn los.
Traurig stieg sie in ihr Auto. Süden wartete, bis sie den Hof verlassen hatte, ohne ihr noch einmal zu winken.
In seiner Wohnung rief er die Auskunft an, ließ sich eine Nummer in Sendling geben, rief dort an, führte ein kurzes Gespräch und bestellte danach ein Taxi.
Bevor er ging, legte er im Flur das Ohr an die Wand, presste die Hände flach gegen den weißen Verputz und lauschte. Vielleicht, dachte er, gibt es noch einen Ausweg aus der Finsternis dieses Sommers.
Sie war ziemlich überrascht, ihn zu sehen, obwohl er sein Kommen am Telefon angekündigt hatte. Am liebsten hätte sie seine Fragen an der Tür beantwortet, aber das erschien ihr unhöflich. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, und er hatte sofort den Eindruck, dass sie den Tisch auf die Schnelle aufgeräumt hatte, so ordentlich und leer stand er vor dem blauen Sofa, auf das er sich setzte.
»Nicht doch einen Cognac, Herr Süden?«, fragte Evelin Sorge, die ein schlichtes rosafarbenes Kleid trug und ihre Haare hochgesteckt hatte.
»Nein, vielen Dank«, sagte er, »entschuldigen Sie, dass ich noch so spät bei Ihnen aufkreuze. Haben Sie über meine Fragen, die ich Ihnen am Telefon gestellt habe, nachgedacht?«
»Ja«, sagte sie, warf einen Blick, den er nicht zu deuten wusste, zur Tür und
Weitere Kostenlose Bücher