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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Reise? Ein Durcheinander von Licht und Finsternis, der Geschmack der Herbstluft, das Gefühl von Berührungen auf der Haut. Als reiste ich schon hundert Jahre auf diesen Schienen, versteckt in den tiefen Wagenverliesen, wo mich die hungrigen Tiere nicht entdecken konnten. Als säße ich im Kleiderschrank und hielte den Atem an, den Kopf auf die Knie gelegt, über mir Pelzmäntel und Festanzüge, dunkel wie Rindskadaver in Kühlkammern. Ein Gefühl von Geborgenheit und unbefugtem Eindringen in fremde Gerüche, faszinierend und erschreckend zugleich. Stimmen und Gesang erklangen in meinem Kopf, kehrten zurück und wiederholten sich, all die Psalmen, die sie gesungen hatten, alle Wünsche, alles Offene und Verschwiegene, charmante Leute, absonderliche Umstände, was interessierte mich ihr Kampf, was gingen mich ihre Versuche an, Widerstand zu leisten, was sie meine Probleme, meine Flucht und mein Untertauchen. Aber wie dem auch sei – wir gehen unsere eigenen Wege, gelangen an unbekannte Orte, dringen hinter die Kulissen der eigenen Erfahrung, und jeder, dem wir dort begegnen, gräbt sich mit seiner Stimme und seinen Berührungen in unser Gedächtnis. Auch wenn ich diesen Zug nie mehr verlassen würde, auch wenn ich bis zum Verrecken auf dieser Pritsche, in dieser verlorenen Falle liegen bleiben müsste, die Erinnerungen an das Gesehene kann mir niemand nehmen.
    *
    Die Kleiderschränke standen wie Aquarien da, die Luft darin war abgestanden, der Geruch der gewaschenen Hemden mischte sich seltsam mit dem Geruch von Ladenregalen, als kämpfe der Geruch des Lebens mit dem Geruch des Todes. Die besten Kindheitserinnerungen sind die Erinnerungen an den Tod, der sich vor dem Druck des Lebens zurückziehen muss. Später ist das alles verschwunden, zusammen mit den abgetragenen Kleidern. Warum fiel mir das gerade jetzt ein, während dieser Reise, auf der ich Unruhe und Aufregung nicht loswurde? Die Vergangenheit blendete wie Straßenlaternen und drang in die dunklen Ecken der Waggons. Seinerzeit, in einem anderen Leben, vor vielen Jahren, ist Verschiedenes mit mir passiert, und das war es wohl, woran ich die ganze Zeit dachte, während ich zu verstehen versuchte, wie das Gefühl der Gefahr im Hals mit dem Gefühl der Lust zusammenpassten. Die Frau, an die ich dachte, war älter als ich, nein, andersherum – ich war bedeutend jünger als sie, wie alt war ich denn damals, vierzehn vielleicht? Total jung jedenfalls. Aber jemand plant für uns, jemand hatte mich zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort geführt, die gewöhnliche Zufallsgeschichte – ich musste etwas überbringen, eine Nachricht, Bücher oder so was, sie war gerade dabei, alte Kleidung aus dem Schrank auszusortieren, sie verstreute die Sachen ihres Vaters im Zimmer und marschierte über die Feiertagskleider ihrer Mutter wie über die Fahnen eines besiegten Feindes. Als ich eintrat, bat sie mich zu warten, ich setzte mich auf die Couch und beobachtete scheu, wie sie sich über Mäntel und Röcke beugte, wie sie Anzüge und Hüte herauspickte, nahm diesen schimmernden Haufen fremder Konturen und Gerüche wahr, über den ihre nackten Füße liefen. Wir hatten gar nicht miteinander geredet, aber als sie mich hinausbegleitete, berührte sie auf eine eigentümliche Art meine Schulter, als wolle sie mich von sich selbst und von diesen alten Lumpen wegstoßen, die herausfordernd über den Boden verstreut lagen. Das war auch nicht die Geschichte, die Geschichte selbst ereignete sich etwas später, aber ich bin überzeugt, dass an jenem Tag schon alles entschieden war, sonst wäre sie nicht so vorsichtig über die gelben und roten Hemden des Vaters gestiegen und ihre Hände wären, als sie meine Schulter berührten, nicht so heiß gewesen. Heiß waren sie auch beim nächsten Mal, als wir plötzlich nebeneinander saßen, in einem nächtlichen Ikarus-Bus, der aus dem Nichts ins Nirgendwohin fuhr, voll lärmender Menschen, die nicht zur Ruhe kamen, Alkohol und Äpfel von Sitz zu Sitz reichten und, einer lauter als der andere, Flüche und Liebeserklärungen in die Sommernacht schrien. Eine ausgelassene Schar von Freunden, Freunde und Bekannte, alle aus derselben Plattenbausiedlung, die ganze Nacht unterwegs auf der Rückfahrt von einem Fest, das Gold der abendlichen Vorstädte, Kiefern, umwickelt mit der schwarzen Gaze der Nacht, frische Luft, die durch die geöffneten Dachluken drang, und mitten in der Nacht legte sie mir ihren Kopf auf die Schulter, stellte sich

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