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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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dritter Klasse. Soll ich mich jetzt umziehen?
    – Mach schon, – antwortete der Versehrte und drehte sich weg.
    *
    Nachdem sich die Oktoberluft abgekühlt hatte, wurde sie elastischer und durchlässiger, so dass Stimmen, die in sie eindrangen, von einer unsichtbaren Fläche in die Finsternis zurückgespielt wurden, wo sie lange nachhallten und zerbröckelten. Die Lautsprechertante im Bahnhof kündigte immer wieder etwas an, las irgendetwas vor, bat um Aufmerksamkeit und warnte vor Verspätungen, unzählige Male wiederholte sie die Nummern der Züge, aber alles vergebens – man verstand nichts, die Buchstaben und Ziffern rieselten wie trockener Vogelkot aus dem Lautsprecher, informierten weniger, als dass sie abschreckten. Ich stand im Schatten des Bahnhofsgebäudes auf dem Bahnsteig, ängstlich, in der Halle zu bleiben, und nicht mutig genug, ins Licht zu treten. Schaute in die Scheinwerfer, die den schwarzen Stoff der Oktobernacht durchstachen, betrachtete aus der Ferne die Figuren der Eisenbahner, die hinter dem Bahnübergang verschwanden, hörte dieser Eisenbahnsprache zu und dachte, wer das wohl war, der gekommen war, wem ich wohl plötzlich so wichtig war. Vielleicht jemand, den mein Bruder geschickt hatte? Warum hatten sie das dann aber nicht gesagt? Und wenn es die Maiskönige waren, was wollten sie? Die Ruhe, die sich so lange gehalten hatte, war plötzlich vorbei, alles kehrte auf seinen Platz zurück, das Leben wollte von niemandem an der Gurgel gepackt werden. Kurzum, diese Geschichte ist so verworren wie das Gras zwischen den Schwellen, dachte ich, und in diesem Augenblick fuhr mein Zug ein.
    *
    Im halbleeren Wagen saßen überwiegend Kleinhändler, sie schliefen, ihre Segeltuchsäcke mit der kostbaren chinesischen Ware hatten sie auf die Bänke geschmissen und es sich darauf bequem gemacht. Die Wagen quietschten wie Schaukeln im Freizeitpark, der Zug setzte sich langsam in Bewegung, hielt dann, als ob er etwas vergessen hätte, rollte zurück, zerriss die Stille mit seinem Gekreisch, und schleppte sich wieder vorwärts. Ich verkroch mich in eine ruhige Ecke zwischen Säcke und Kartons mit kaltem Fleisch, aus denen es nach Tod roch, setzte mich ans Fenster und betrachtete das schwarze Geäst, den schweren Körper des Mondes, der sich über die Donezker Eisenbahn wälzte. Hinter dem Fenster stand der Herbst mit seinem Gemüsegeruch, er ließ Güter- und Passagierzüge durch sich hindurch, umwob sie mit dem Geist von Reife und Zerfall und füllte sie mit trockenem Ostwind. Der Zug wollte einfach keine Fahrt aufnehmen, passierte einen weiteren vom Dunkel bedrängten Bahnübergang, beschleunigte und fuhr in die unbeschreibliche Schwärze hinein. Dann blieb er mit einem Ruck stehen, sein gesamtes Metall wackelte und riss die unruhigen Händler toter Tiere aus dem Schlaf.
    Ich war schon fast eingeschlafen, als der Zug unter den Lampen einer kleinen Station rumpelnd zum Halten kam. Ich kroch unter den Todeskartons hervor, trat in den Vorraum und lehnte mich aus dem zerbrochenen Fenster. Jenseits der zwei Bahnsteige für die Passagierströme lag tiefe Finsternis. Von der Lok her kam eine Streife den Zug entlanggelaufen. Sie waren zu dritt, der Vordermann mit Kalaschnikow, die zwei anderen versteckten sich hinter ihm. Sie gingen konzentriert, vielleicht etwas zu schnell, aber ohne Hast, als wüssten sie, wohin und was tun. Plötzlich zerriss ein Pfiff die Stille, der Zug würde jeden Augenblick losfahren, die Bullen wurden nervös, liefen zum nächsten Waggon und trommelten gegen die Tür. Sie wurde aufgestoßen, und einer nach dem anderen kletterte hinein. Irgendetwas sagte mir, dass sie hinter mir her waren, dass sie mich auf diesem gottvergessenen Bahnsteig erwartet hatten, vielleicht hatte ihnen jemand einen Tipp gegeben, vielleicht waren sie von allein darauf gekommen, oder es war einfach Glück. Uns trennten drei Wagen, das waren drei Minuten Zeit. Der Zug konnte sich jeden Augenblick in Bewegung setzen, dann wäre mir der Rückweg abgeschnitten. Ich versuchte die Tür zu öffnen. Sie gab nicht nach. Ich tastete im Dunklen nach der Verriegelung, warf mich wieder dagegen, und diesmal klappte es. Ich sprang auf den schwarzen Asphalt. Fast im selben Moment ruckte der Zug an und begann fortzukriechen, ich blieb alleine auf dem Bahnsteig zurück. Der letzte Wagen fuhr vorbei, auf dem anderen Bahnsteig sah ich jetzt einen zweiten Zug, nur drei Wagen, dunkel und geheimnisvoll. Kein Laut drang heraus, kein Licht

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