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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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mit Älteren ablichten – mit Eltern, Lehrern, anderen Männern und Frauen, von denen unklar blieb, wie sie zu ihr standen. Auf einem Bild stand sie im sommerlichen, vor Sonne und Grün flirrenden Park zwischen zwei üppigen Frauen, die sie mit ihren riesigen Leibern einfach einklemmten, so dass sich Tamila vor dem Hintergrund ihrer bunten Kleider komplett auflöste. Verblüfft identifizierte ich die beiden Frauen als Angela Petrowna (dichtes aschgraues Haar, das in Büscheln hochragt, durchdringender Blick, herbstliche Schwere der Brüste) und Brünhilde Petrowna (das heiße Kupfer der Dauerwelle glitzert in der Sonne). Andere Fotos zeigten Kotscha und den Versehrten (der wagemutige Schritt eines jungen Gangsters und der stählerne Torso des Stürmerstars), Sascha Python und Andrjucha Michael Jackson, ein Heer von anderen Bekannten, Freunden, Schulkameraden, Nachbarn, Verwandten, eine unendliche Karawane von Gesichtern und Gestalten, Schatten der Vergangenheit, mein ganzes Leben, meine gesamte Erinnerung. Zwischen alldem stand Tamara mit vor Freude und Verwunderung halb geschlossenen Augen, teeschwarzen Haaren, ohne Kleider in den nächtlichen Wellen, im strengen Kostüm bei der Verleihung irgendeiner Auszeichnung, in Pullover und Jacke am Arbeitsplatz, mit Regenschirm, Brille und Taschen auf Reisen und Feiern, bei Hochzeiten und Beerdigungen.
    Er tauchte erst gegen Ende auf, in den letzten Bildern, sie war eine geschiedene Frau, viel attraktiver und verständiger als vor der Ehe, ihr von Schlaflosigkeit leicht aufgedunsenes Gesicht, eine leicht traurige Stimmung, als habe sie ihn nicht mehr erwartet, da tauchte er auf. Plötzlich war er immer und überall bei ihr, er verdeckte sie mit seinem Körper vor der Kamera, als ob er sie aus dem Bild drängen wolle, was ihr früher mit niemandem passiert, was ihr aber, ihrem Gesichtsausdruck nach, nicht unrecht war. Man hatte den Eindruck, dass sie seine Anteilnahme brauchte, seinen Schutz und seine Präsenz, dass sie ihm gern Platz machte in ihrem Leben und diesen Platz als angemessen und notwendig betrachtete. Manchmal tauchte das betrübte Gesicht Tamilas auf, die, ohne es zu wollen, mit ihnen auf dasselbe Foto geraten war. Dann musste etwas passiert sein, denn plötzlich war er verschwunden, und es blieb offen, warum er auf den weiteren Bildern fehlte. Im Folgenden verschwamm alles ineinander – langjährige Freundinnen, alte Gesichter, Häuser, Beerdigungen, fremde Städte, Winterlandschaften, kaum noch Aufnahmen von Tamara, als habe sie nicht fotografiert, nicht gesehen werden wollen in jenen Jahren. Erst ganz am Ende waren einige relativ neue Fotos eingeklebt, Tamara und Tamila, wie sie heute waren– müde, aber heiß, einander ähnlich und doch verschieden. Jetzt hielten sie zusammen, im wahrsten Sinne des Wortes – hielten sich an den Händen, schmiegten sich aneinander, blickten gewissenhaft in die Kamera, wandten ihren Blick nicht ab, die Finger verschlungen und sich mit Kleidern oder Haaren berührend. Frauen mit dunklen Augen und genauso dunkler Vergangenheit, die nur dich anschauten, und du nur sie, niemanden sonst.
    *
    Als sie mitten in der Nacht heimkam, als ich im Schlaf hörte, wie sie mit den Schlüsseln hantierte – der in den Plattenbausiedlungen umherschleichende Petrus auf der Suche nach Rechtgläubigen – und ins Zimmer trat, in dem ich angekleidet schlief, das Fotoalbum im Arm, konnte ich mich sogar im Schlaf an ihre Bewegungen und Blicke erinnern, an ihre windzerzausten Haare und die eng anliegenden Kleider, als sie also unsicher durch das dunkle Zimmer ging und neben mir stehen blieb, mich in der Dunkelheit betrachtete und sich schließlich entschloss, mir das Album wegzunehmen, packte ich ihre Hand und zog sie an mich, und sie gab blind nach, ließ sich in die Dunkelheit ziehen, und als ihre Lippen auf meine trafen, fing sie an, mich gierig zu küssen, ohne Zurückhaltung, als hätte sie lange darauf gewartet und daran gedacht, so dass es gar nicht anders kommen konnte. Sie schaffte es nicht einmal sich auszuziehen – lag auf mir im Mantel, ihre Haare fielen mir ins Gesicht und machten das Halbdunkel schwarz und beweglich. Als ich ihre Waden berührte, ertastete ich warme Strümpfe, die fast bis zu den Knien reichten, dann kam aber nichts – keine Strumpfhosen, das törnte mich irgendwie an, ich fühlte sie plötzlich ganz, ihre Schwere und Leichtigkeit, ich spürte die Wärme ihrer Haut und das vor Erregung feuchte Höschen, das sie

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