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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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hatte welche übrig – nicht Sascha Python, nicht Semen Schwarzer Schwanz, und auch Andrjucha Michael Jackson nicht, der sich ein weiteres paar schwarze Shorts auszog und sie dem Ältesten der Ballerlajeschnykows gab. Enttäuschung machte sich breit, die ganze Sache hatte plötzlich jeden Sinn verloren, was war ich denn nütze ohne Stollenschuhe. In Springerstiefeln konnte ich ja kaum spielen. Ich sah den Versehrten an und hob die Hände, wie um mich für meine Kurzsichtigkeit zu entschuldigen. Der Rest der Mannschaft sah ebenfalls den Versehrten an, als erwarteten sie ein Wunder, als hofften sie, er werde uns gleich mit fünf Brotlaiben laben und alle elf Spieler mit nur einem Paar Zauberschuhen ausstatten, die uns zum totalen und unanfechtbaren Sieg führen würden. Der Versehrte spürte die allgemeine Anspannung natürlich auch, er erfasste die Bedeutung dieses Augenblicks, von dem vielleicht unser Teamgeist und unser Kampfeswille abhingen, bückte sich, zog irgendwo unter dem Sessel sein abgenutztes Case hervor, so eines, wie es Pioniere, Ingenieure und Politoffiziere in den Achtzigern trugen, legte es sich aufs Knie, balancierte zwischen den Sitzen auf einem Bein, öffnete es vorsichtig und holte mit leichter Hand seine alten Reserve-Adidas heraus, in denen er schon vor fünfzehn Jahren Tore gejagt hatte. Die Mannschaft schaute gebannt auf die Adidas. Denn es waren die goldenen Schuhe des Versehrten! An mehreren Stellen mit Nylonschnur geflickt, von verwaschener Farbe, rochen sie nach Feldgras, das sich auf ewig ins löchrig geschabte Leder gefressen hatte. An der Sohle fehlten zwei Stollen. Der Versehrte hielt sie mir hin und sagte:
    – Nimm, Harry, speziell für dich.
    Die Mannschaft unterstützte ihren Kapitän mit freundschaftlichem Gebrüll und in ehrlicher Verbrüderung. Ich nahm die Schuhe und setzte mich.
     
    Der Bus brauste über die Landstraße, mit ihren scharfen, stechenden Strahlen drang die Sonne herein, wovon die Augen der Freunde raubtierhaft flackerten und ihre Haut bläulich schimmerte wie bei Ertrunkenen. Vor mir zogen sich die Brüder Ballerlajeschnykow um. Der Jüngere, Rawsan, hatte auf der linken Schulter einen Katzenkopf eingraviert, an der rechten Hüfte brannte eine Frau auf dem Scheiterhaufen, an der linken saß ein mit scharfem Messer gestochener Dämon. Die Katze, die wahrscheinlich räuberisch und wild aussehen sollte, wirkte ziemlich häuslich, vielleicht weil Rawsan, seitdem er sich das Tattoo hatte machen lassen, stark zugenommen und die Katze sich über den Oberarm ausgebreitet hatte. Die Frau auf dem Scheiterhaufen glich meiner und Rawsans Chemielehrerin. Wie bei einer Flasche guten Kognaks waren dem mittleren der Ballerlajeschnykows, Schamil, ein paar Sterne unter die linke Brustwarze eingestanzt worden. Unter den Sternen stand in gotischen Lettern: »Es gibt keinen Gott außer Allah.« Auch bei Baruch, dem ältesten der Brüder, war die Haut üppig mit Sternen, Kreuzen und Kreuzigungen bedeckt, in der Bauchgegend war ein Adler dargestellt, der einen Koffer im Schnabel trug, was wohl Baruchs Hang zur Flucht aus Strafvollzugsanstalten symbolisieren sollte. Der Koffer erinnerte an das Case, das der Versehrte trug. Als ich mir meine alten Freunde genauer ansah, bemerkte ich auf ihren vom Leben und den Feinden geschundenen Körpern ähnlich viele Darstellungen, die im grellen Sonnenlicht weich und dunkel schimmerten. Ihre Rücken und Taillen, Brüste und Schulterblätter waren von Schädeln und Sicheln gezeichnet, von Frauengesichtern und unverständlichen Zahlenkombinationen, von Skeletten und Darstellungen der Gottesmutter, bösen Verwünschungen und hochtrabenden Formeln. Semen Schwarzer Schwanz sah noch am asketischsten aus, auf seiner Brust konnte man »Mein Gott ist Adolf Hitler« lesen und auf dem Rücken »Auch im Knast bestimmen die Bosse«.
    Nach und nach verstummte die Mannschaft, als spürten alle, dass die große Schlacht näherrückte und als fragten sie sich in Gedanken, ob sie bereit wären, all das noch einmal zu tun – über ihren eigenen Schatten springen, sich so richtig verausgaben, weiterspielen, auch wenn sie nicht mehr konnten, und die Gasler fertigmachen. Inzwischen bremste der Fahrer ab, rollte von der Landstraße und bog links in eine löchrige Asphaltstraße ein, die in den nahen Hügeln verschwand. Ich sah aus dem Fenster und versuchte, etwas wiederzuerkennen. Wann bin ich hier zum letzten Mal gewesen? Vor fünfzehn Jahren, im Frühling, waren wir

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