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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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wollte nicht verstehen. – Wo willst du hin?
    – Steh auf.
    – Wo willst du denn hin? Warte.
    – Es reicht, – wiederholte sie ruhig und machte den Knopf zu, an dem ich so lange herumgefummelt hatte.
    Scheiße, dachte ich.
     
    Plötzlich spürte ich über meinem Kopf ein schweres Atmen. Ich richtete mich auf und sah den Schäferhund sumpfschwarz über mir stehen. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wann er gekommen war. Nun stand die alte Pachmutowa da und blickte mich mit unverhohlener Verwunderung an – was willst du denn von uns? Und ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte.
     
    – Los, wir gehen, – sagte Katja und machte sich auf den Weg Richtung Sendeturm, der hinter dem Horizont aufragte. Pachmutowa folgte freudig. Ich stand auf, klopfte den Staub ab und schleppte mich hinterher, völlig fertig.
    Unterwegs schwieg Katja, meine Bemühungen, ein Gespräch zu beginnen, ignorierte sie, leise summte sie vor sich hin und sprach überwiegend mit Pachmutowa. Am Tor zum Sendeturm hielt sie an und streckte die Hand aus.
    – Danke, – sagte ich. – Sorry, wenn ich was falsch gemacht habe.
    – Schon okay, – antwortete sie ruhig. – Alles in Ordnung. Und geh nicht in die Maisfelder.
    – Warum hast du solche Angst vor denen?
    – Ich habe keine Angst, – antwortete Katja. – Ich kenne sie. Also, ich gehe.
    – Warte, – hielt ich sie auf. – Was machst du heute Abend?
    – Hausaufgaben. Und morgen auch, – fügte sie hinzu.
    Der Hund schnüffelte zum Abschied an meinen Schuhen und lief ebenfalls nach Hause. A hard day’s night, dachte ich.
    *
    Der Versehrte musterte mich argwöhnisch, als ob er alles wüsste und verstünde, aber er sagte nichts. Bevor er sich auf den Heimweg machte, kam er zu mir:
     
    – Also, Hermann, – seine Stimme klang dumpf, aber zutraulich. – Morgen brauchen wir dich.
    – Wer – wir?
    – Das wirst du sehen, – antwortete Schura ausweichend. – Wir holen dich gegen elf ab. Sei bereit. Die Sache wird ernst. Können wir auf dich zählen?
    – Klar doch, Schura, was für eine Frage.
    – Hab ich mir schon gedacht, – sagte der Versehrte, stieg in sein Auto und rollte in Richtung Landstraße.
    Na, dachte ich, jetzt geht’s los. Und sag nicht, du hättest’s nicht gewusst.

5
    Ich dachte lange darüber nach. Wieso habe ich mich in ihre Angelegenheiten hineinziehen lassen? Was mach ich hier überhaupt? Warum bin ich nicht schon längst abgereist? Und vor allem – was hat der Versehrte ausgeheckt? Wer seinen Charakter und sein schwieriges Verhältnis zur Realität kannte, der musste alles Mögliche befürchten. Aber wie weit würde er gehen? Es betrifft ja die Firma, dachte ich, wie weit also würde er gehen, um sie zu retten? Und welche Rolle hatte er mir in dem Spiel zugedacht? Ich überlegte, was mich wohl morgen erwartete, ob ich den nächsten Abend noch erleben würde und ob es nicht besser wäre, auf der Stelle zu verschwinden. Niemand konnte garantieren, dass die Sache friedlich und ohne Blutvergießen enden würde, sie alle bestanden auf ihren Prinzipien – der Versehrte genauso wie die Piloten des Maisbombers, sie alle hatten zu große Ambitionen, um eine organisatorische Frage ohne Leichen zu lösen. Als wäre alles zurückgekehrt – die Schuljahre, die Erwachsenenwelt gleich nebenan, als hätte jemand die Tür zum Nebenzimmer aufgestoßen, und du siehst alles, was dort abgeht, vor allem aber siehst du, dass es dort absolut nichts Gutes gibt, aber jetzt, wo die Tür offen steht, hast du plötzlich damit zu tun. Mit solchen Gedanken wartet es sich schlecht, sie fordern eine Entscheidung. Doch die Entscheidung hängt nicht allein von dir ab. Alles wird sich entscheiden, wenn deine Waffenbrüder an deiner Seite sind. Aber wo sind sie, diese Brüder, und vor allem: wer sind sie? Ich stand in der Dunkelheit und spürte das wachsame Atmen und das heiße Klopfen entschlossener Herzen. Die Nacht glühte wie frischer Asphalt, bis zum Morgen blieb weder Zeit noch Geduld. Vielleicht war das der Moment, in dem ich mich hätte entscheiden müssen – bleiben oder verschwinden. Aber diesen Moment habe ich verschlafen.
    *
    Ich wachte früh auf und wusste, dass die Gelegenheit zum Rückzug verstrichen war und es nichts gab, wohin ich mich hätte zurückziehen können. Einfach so ins Sonnenlicht hinaustreten, das selbstbewusst ins Zimmer strahlte, und das Gelände verlassen, schien mir unmöglich. In der Nacht hätte ich es noch tun können, aber jetzt nicht mehr.

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